Das Hexenkreuz
sich dann zur Tür
vor. Sie griff nach dem Porzellanknauf und drehte ihn. Nichts. Sie rüttelte
daran. Jemand hatte die Tür von außen verschlossen! Sie stürzte zum einzigen
Fenster, dessen Existenz sie bisher nicht wahrgenommen hatte. Sie riss es auf
und sog tief die frische Luft in ihre Lungen. Dann betrachtete sie erstaunt das
Panorama, das sich ihr bot: Vor ihr breitete sich eine weite Ebene aus, umgeben
von majestätischen Bergen mit weiß betupften Gipfeln. Sie selbst befand sich im
obersten Stockwerk in einer ehemaligen Burganlage, die perfekt im
Renaissancestil instand gesetzt worden war. Eine mittelalterliche Stadt mit
schmalen Gassen und einem Aquädukt, das sich wie eine Brücke quer durch ihre
Mitte zog, flankierte sie. Emilia beugte sich weit hinaus und inspizierte ihre nähere
Umgebung. Sie blickte in einen großen Hof hinunter, in dem es von prächtigen
Kutschen, edlen Pferden und kostbar gekleideten Besuchern nur so wimmelte.
Immer noch mehr Gäste trafen ein. Emilia glaubte gar das Violett eines
Bischofskleides unter ihnen ausgemacht zu haben. Die ganze bunte Schar lärmte,
lachte und machte gegenseitig mit lauten Rufen auf sich aufmerksam. Emilia
winkte und rief, doch niemand konnte sie bei dem Lärm hören. In der Ferne
erspähte Emilia eine Kathedrale, deren Türme in den Himmel ragten. Wo war sie
und wie war sie hierher geraten? Nichts von alledem weckte auch nur ansatzweise
eine Erinnerung in ihr. Das war mit Sicherheit nicht Rom. Verwirrt fragte sie
sich dann, wie sie auf Rom kam? Sie war noch nie in ihrem Leben dort gewesen,
oder?
Emilia riss
die Augen auf und klammerte sich an den Fensterstock. Die Wucht, mit der ihre
Erinnerung ganz plötzlich eingesetzt hatte, ließ sie straucheln. Es war wie ein
Tritt in den Magen. Alles war wieder da: Ihre Flucht aus Santo Stefano, der
Herzog, Emanuele, Francesco, Serafina, Vittoria… Sie zitterte und ließ sich
langsam zu Boden gleiten. Die vergangenen Ereignisse bauten sich in ihrem
Inneren nach und nach auf. Sie durchlief alle Phasen und kam in der
unmittelbaren Gegenwart an. Sie zwang sich, das letzte Mosaiksteinchen zu
finden, das Bindeglied zwischen dem Morgen in Rom und ihrem Erwachen in diesem
Bett.
Sie konnte
sich noch an das Frühstück mit Serafina und Vittoria im Palazzo Colonna
erinnern. Danach ging alles in einer bodenlosen Schwärze unter. Nun war sie
hier, allein und von ihren Freunden getrennt. Dies ließ eigentlich nur einen
Rückschluss zu: Ihre Flucht hatte ein Ende gefunden. Sie befand sich in der
Gewalt des Herzogs von Pescara. War sie in Pescara? Nein. Pescara lag am Meer.
Hier gab es definitiv zu viel Gebirge. Also hatte man sie irgendwo ins
Landesinnere geschafft. Sicher innerhalb des Herrschaftsbereichs des Herzogs.
Welche größeren Städte gab es innerhalb der Abruzzen? L´Aquila war es nicht,
diese Stadt hätte sie mit Sicherheit wiedererkannt. Chieti vielleicht? Aber lag
Chieti nicht auf einem Hügel, mit terrassenförmig herabfallenden Bauten, von
denen aus man ebenfalls das Meer erblicken konnte? Diese Stadt hier lag in
einer Ebene, umgeben von hohen Bergen. Eigentlich kam nur eine Stadt in Frage.
Sulmona, die Stadt Ovids! Je mehr sie darüber nachdachte, umso sicherer war sie
sich. Das Gebirge war das Maiella-Massiv, von dessen Schönheit Emanuele ihr
einmal vorgeschwärmt hatte. Sie rappelte sich auf und die Seidendecke fiel
herab. Das erinnerte sie daran, dass sie Kleider brauchte. Sie durchsuchte das
gesamte Zimmer. Nichts. Sie trank ein weiteres Glas Wasser und betrachtete es nachdenklich.
Dann warf sie es auf den gefliesten Boden. Sie hob eine größere Scherbe auf,
riss den goldfarbenen Brokat vom Bett und schnitt ein passendes Loch in die
Mitte, durch das sie ihren Kopf steckte. Den Stoff band sie mit einer der
Vorhangkordeln um ihre Taille fest. Mit diesem improvisierten Kleid fühlte sie
sich für die Öffentlichkeit gewappnet. Sie nahm die noch halbvolle schwere
Karaffe, trat an das geöffnete Fenster und warf sie mit Schwung hinunter. Sie
traf niemanden direkt, doch der Wasserschwall erwischte einen Herrn in einem
burgunderfarbenen Anzug mit einem federgeschmückten Hut. Die langen Federn
hingen ihm nun traurig tropfend ins Gesicht. Seine Fassungslosigkeit darüber
war ihm sogar aus der Entfernung anzumerken. Sein Zustand zog die Aufmerksamkeit
anderer auf sich. Erstes Gelächter erscholl. Der Geschädigte hob den Kopf und
suchte nach dem Übeltäter. Hoch über sich entdeckte er eine junge Frau, die
sich
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