Das Hexenmal: Roman (German Edition)
blickten sie stechend an.
»Auch Euch kann der Heiland mit seiner Güte und Gnade erlösen und alle Pein von Euch nehmen. Ihr müsst ihm nur vertrauen … Bevor ich mich in den Schutz der Klostermauern begab, war mein Leben ebenfalls von Schmerz gezeichnet …«
»Woher wisst Ihr von meinem Leben?«, unterbrach Anna die Nonne und musste sich räuspern. Sie hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken. Fragend und mit ängstlichen Augen sah sie die fremde Frau an. Diese lächelte gütig und wies zum Kreuz.
»Er hat es mir verraten!«, flüsterte sie und wollte Annas Hand in die ihre nehmen. Doch Anna sprang auf und rannte aus der Kapelle, als sei der Teufel hinter ihr her. Als sie draußen angekommen war, schlug ihr das Stimmengewirr der vielen Pilger entgegen, und es war ihr in diesem Augenblick schier unerträglich. Die Worte der Ordensfrau hallten noch in ihren Ohren nach: »Er hat es mir verraten! Er hat es mir verraten!« Anna hielt sich die Ohren zu und stolperte von der Kapelle fort. So konnte sie nicht sehen, wie ihr Mann der Nonne einige Münzen in die Hand drückte. Doch dafür hatte es ein anderer bemerkt.
Fast blind vor Tränen sah Anna nicht, wohin sie rannte. Erst als sie beinahe gegen einen Holzkarren gelaufen wäre, hielt sie inne. Erschrocken sprang ein ärmlich gekleideter Bauer von der Ladefläche und hielt dabei seinen breitkrempigen Hut fest. Verdutzt schaute die junge Frau den Mann an.
Zuerst standen sie sich stumm gegenüber, doch dann fragte der Mann, der kaum älter war als sie selbst: »Kann ich Euch helfen?«
Hastig schüttelte sie den Kopf.
»Nein! Ich möchte nur eine Weile allein sein. Es tut mir leid, dass ich Euch gestört habe …«
Leise, so leise, dass man es fast nicht hören konnte, drang ein Flüstern an ihr Ohr. Sie meinte, ihren Namen zu verstehen. Ihr Herz krampfte sich zusammen, und sie glaubte, wahnsinnig zu werden, denn das Flüstern hörte sich wie die Stimme ihres toten Bruders an.
Sie sah zu den Wipfeln der Bäume empor und schrie: »Was wollt ihr von mir?« Dann sank sie erschöpft auf die Knie.
Erschrocken griff Burghard nach ihrem Arm und versuchte sie zu beruhigen.
»Anna, habt keine Angst …«, weiter kam er nicht, denn sie sprang wieder auf die Beine und schrie ihn an: »Woher wisst Ihr, wie ich heiße?«
Sie wollte sich gerade umdrehen und weglaufen, als sie wieder hörte, wie jemand ihren Namen flüsterte, doch diesmal etwas lauter und deutlicher. Es kam von der Ladefläche des Fuhrwerks, und so wandte sie sich langsam dem Karren zu. Als sie über die Seitenwand blickte, konnte sie die Konturen eines menschlichen Körpers unter einer Decke erkennen. Sie war gerade im Begriff, die Decke anzuheben, als der Bauer sie daran hinderte.
»Tut das nicht, gute Frau!« Die Sanftheit in der Stimme des Burschen hielt sie zurück.
»Wer ist das?«, fragte sie stattdessen leise.
»Jemand, den Ihr glaubtet verloren zu haben und der Euch nur zeigen möchte, dass er noch da ist, wenn auch nicht so, wie Ihr ihn in Erinnerung habt.«
»Was sprecht Ihr für wirres Zeug? Was soll das …«
Da flüsterte der menschliche Körper, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte, erneut: »Anna, hab keine Angst, und vertraue dem Bauern. Er will dir nichts Böses …«
Erschrocken presste sie die Hände vor den Mund und konnte
nicht glauben, wessen Stimme sie soeben deutlich erkannt hatte. Doch dann wisperte sie: »Clemens?«
Mit erstickter Stimme antwortete er ihr: »Ja, Anna, ich bin es … Clemens, dein Bruder!«
Dann war es wieder still, und sie konnte den Mann unter dem Tuch schwer atmen sehen. Ihr zitterten die Knie, und sie wusste nichts zu sagen oder zu fragen. Mit beiden Händen hielt sie sich an der Seitenwand des Karrens fest. Bestürzt sah sie den Bauer an. Sie glaubte zu träumen. Oder war sie gar dem Wahnsinn verfallen? Sollte sie doch im Kloster um Hilfe bitten, so wie die Ordensfrau es ihr geraten hatte? Dort, hinter dicken Mauern, könnte ihr kein Leid mehr geschehen.
Sie spürte, wie sich alles um sie herum drehte, und sie wäre sicher ohnmächtig geworden, hätte nicht die Stimme ihres Mannes sie wieder zu sich gebracht. Sie schnappte nach Luft. Wieder hörte sie ihren Mann nach ihr rufen.
»Geht, Anna, er darf nicht wissen, dass Clemens lebt!«
›Clemens lebt tatsächlich‹, dachte sie. Trotzdem begriff sie noch immer nicht, was ihr da eben widerfahren war.
»Kommt morgen wieder, dann werdet Ihr mehr erfahren!«
Besorgt sah Burhard auf den Körper,
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