Das Hexenmal: Roman (German Edition)
und konnte den Anblick des entstellten Gesichts ertragen. Ein zärtliches Lächeln verschönte
ihre hageren Züge, als sie voller Liebe über seine verletzte Kopfhaut strich.
»Mein lieber Bruder Clemens!«, flüsterte sie glücklich und schmiegte sich vorsichtig an seine Brust. Clemens schloss die Augen und drückte seine Schwester an sich.
»Du musst mir erzählen, wie das passieren konnte und warum ich dich hier auf dem Hülfensberg wiedersehe …«
»Ja, Anna, du sollst alles wissen. Komm mit uns, wir verstecken uns, damit uns niemand sieht …«
Als Burghard Clemens etwas zuflüsterte, wurde Anna mit einem Mal bewusst, dass ihr auch der Mönch kein Unbekannter war, und sie sagte an ihn gewandt: »Euer Gesicht ist mir zwar fremd, doch Eure Stimme nicht.«
Burghard lächelte verschmitzt, und Clemens versprach: »Auch das sollst du erfahren, Anna!«
Hinter einem Wall aus aufgeschichteten Baumstämmen ließen sie sich nieder, und der junge Arnold begann seiner Schwester zu erzählen, was vorgefallen war. Fassungslos hörte die junge Frau ihrem Bruder zu. Er berichtete von dem Brand und der toten Frau und davon, dass ihr Mann einen Meuchelmörder auf ihn angesetzt hatte. Dass Wilhelm sie mit einem Sud willenlos gemacht und Burghard ihr den Beichtvater vorgespielt hatte.
Als Anna das hörte, stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Stammelnd fragte sie: »Was ich dir in der Beichte anvertraut habe, Burghard, das erzählst du niemandem?«
Clemens lachte – soweit ihm das möglich war. Die frische, dünne Gesichtshaut spannte schmerzhaft über seinen Wangenknochen.
»Ich schwöre bei allen Heiligen, die ich aufzählen kann, dass ich schweigen werde. Außerdem hab ich deine Beichte längst vergessen.«
»Sicher werden es auch nur wenige Heilige sein, die du nennen kannst«, spottete Anna.
»Von wegen, liebe Schwester, Burghard ist Franziskaner.« Als Beweis lüftete der junge Mönch seinen Hut, sodass Anna den ausrasierten Haarkranz sehen konnte. Zerknirscht blickte Burghard in die überraschten Augen der jungen Frau und erzählte nun auch seine Geschichte.
»Wohin wirst du gehen, wenn Clemens nach Dingelstedt zurückkehrt?«
»Anna, wer sagt, dass ich das werde?«
»Natürlich kommst du wieder nach Hause. Zusammen werden wir alles aufklären und Wilhelm vom Hof jagen.«
»Ach ja?«, war plötzlich neben ihnen eine kalte Stimme zu hören. Erschrocken blickten sie auf und sahen unweit von ihnen Wilhelm Münzbacher stehen, der sie mit finsterem Blick musterte. Sie sprangen auf, als Münzbacher langsam auf sie zukam und sie dabei nicht einen Moment aus den Augen ließ. Dann stand er vor ihnen und sprach: »Da hat sich die Suche nach dir ja wirklich gelohnt, meine Liebe. Ich war bereits sehr ungehalten, da ich wegen dir geraume Zeit durch diesen Wald streifen musste. Doch nun, muss ich gestehen, hat sich meine Laune schlagartig gebessert!« An Clemens gewandt meinte er dann: »Habe ich es mir doch gedacht, dass du es geschafft hast, aus der brennenden Scheune zu fliehen. Schließlich hätte man sonst nicht nur die Leiche der Wäscherin finden dürfen. Bemerkenswert, das muss ich schon sagen, mein lieber Schwager. Auch wenn du nicht mehr besonders … sagen wir mal … ansehnlich bist.« Er lachte hämisch.
»Wie konntest du uns das antun?«, wisperte Anna, der erneut die Stimme zu versagen drohte. Spöttisch sah Münzbacher seine Frau an und fuhr fort: »Tja, Schulden, meine Liebe, Schulden. Ich brauchte auf dem schnellsten Weg Geld – viel Geld. Durch euch habe ich es bekommen, auch wenn es länger gedauert hat, als mir lieb war. Aber das Warten hat sich gelohnt, denn jetzt werde ich alles bekommen!«
»Was willst du tun, Wilhelm? Uns töten?«
Münzbacher schien zu überlegen. Spöttisch sagte er dann: »Nein, dass wäre mir zu anstrengend. Außerdem habe ich einmal gemordet, das reicht. Auch müsste ich dann eure Leichen beseitigen. Ich kann ja schlecht den ganzen Wald abbrennen. Nein, da habe ich einen besseren Vorschlag: Du, Clemens, gehst mit deinem Freund hier …«, dabei wies er mit dem Finger auf Burghard, »… deines Weges und kehrst nie wieder nach Dingelstedt zurück. Und du, meine Liebste, wirst heute noch freiwillig dem Orden des Klosters Anrode beitreten und hinter Klostermauern bleiben … für immer! Ich werde dann zu Hause – natürlich zerknirscht – erzählen, dass du auf dem Hülfensberg Zwiesprache mit dem Herrn gehalten hast und seinem Ruf gefolgt bist … und so weiter.«
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