Das Hexenmal: Roman (German Edition)
stehen und lauschten der mitreißenden Geschichte. Interessiert hörte Katharina zu, wie die Quelle am Hülfensberg zu ihrem Namen kam. »Einen Hirtenknaben, der am Hang des Hülfensberges eine kleine Schafherde hütete, quälte unbändiger Durst«, begann der Alte. »Wochenlang hatte es nicht mehr geregnet, und alle Büsche und Pflanzen waren verdorrt. Wie gern wäre er zum Dorfbrunnen nach Geismar gelaufen, doch er wollte den Vater nicht enttäuschen, der ihm aufgetragen hatte, niemals die Herde zu verlassen. Schon von klein an war der Knabe ein frommer und lieber Junge gewesen und hatte stets das Jesuskind verehrt. Als der Durst stetig größer wurde, betete der Knabe zu dem göttlichen Kinde. Plötzlich rieselte Wasser aus dem felsigen Erdreich hinter ihm, und Hirte und Vieh konnten sich daran laben. Aus Dankbarkeit nannte der Knabe die Quelle ›Jesusbrünnlein‹.«
Freudig klatschten die Zuhörer dem blinden Erzähler Beifall, und im Weggehen hörte Katharina, wie sie dem Mann Kleingeld in seinen Blechnapf warfen.
Katharina reihte sich in die Schlange der Wartenden vor der Kapelle ein. Es ging rasch voran, und bereits nach kurzer Zeit
stand sie vor dem romanischen Kreuz. Sie bekreuzigte sich und blickte zur Christusfigur empor. Anschließend setzte sie sich in eine Bank und genoss das Glücksgefühl, dass ihr lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen war. Sie kniete nieder und sprach leise ein Dankgebet.
Nach und nach leerte sich das Gotteshaus, da der Hunger die Menschen jetzt zu den vielen Ständen zog, die schmackhafte Köstlichkeiten anboten. Katharina verspürte weder Appetit noch Durst, sondern wollte nichts weiter, als in der Kapelle sitzen und ihren Gedanken nachhängen.
Burghard drängte sich wie viele andere an den Stand, an dem warmer Zwiebelkuchen feilgeboten wurde. Er hatte den würzigen Duft schon von Weitem gerochen und war seiner Nase gefolgt. Bereits beim ersten Bissen fühlte er sich zurückversetzt in seine Kindheit. Während er genüsslich seine Mahlzeit verspeiste, blickte er zum Eingangsportal der Kapelle und erkannte erfreut, dass dort niemand mehr wartete, um zum Kreuz zu gelangen.
›Endlich komme ich hinein, ohne mich anstellen zu müssen.‹ Burghard wischte sich die Finger an seiner Hose ab und ging in die Kapelle. Nur wenige Gläubige waren anwesend, trotzdem setzte er sich in die letzte Bank. Da er seinen Hut in einem Gotteshaus unmöglich weiter aufbehalten konnte, wählte er einen Platz ganz hinten, denn dort fiel nur wenig Licht hin, und man würde seine Tonsur nicht gleich bemerken. Der junge Franziskaner wollte weder angestarrt werden noch Fragen beantworten müssen, weshalb er sich wie ein Bauer kleidete, obwohl er doch offensichtlich ein Mönch war.
Im Dialog mit seinem Schöpfer bat er um Verständnis und Vergebung für sein Handeln und seine Verkleidung. Als er das Holzkreuz betrachtete, an dem Jesus als goldgekrönter König
dargestellt war, glaubte er ein Lächeln auf dem Antlitz der Jesusfigur zu erkennen. Der Herr vergab ihm. Zum ersten Mal seit langem spürte er innere Ruhe. Dankbar blieb er sitzen und betete.
Anna und Friedrich wollten sich schnellstmöglich auf den Heimweg machen. Zwar wusste Anna, dass es ihr schwerfallen würde, ihrem Bruder auf unbestimmte Zeit Lebewohl zu sagen, dennoch zog es sie mit aller Macht auf den elterlichen Hof, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Bevor sie jedoch abreisen konnten, musste entschieden werden, was mit Münzbachers Leichnam geschehen sollte. Zuerst wollten Clemens und Burghard ihn im Wald verscharren. In Dingelstedt hätte Anna ihn dann als vermisst melden sollen. Doch nach Abwägung aller Gründe, die dafür und dagegen sprachen, befürchteten sie, dass man Anna womöglich unangenehme Fragen stellen könne oder sogar Nachforschungen über Münzbachers Verbleib anstellen würde. Das wollten sie tunlichst vermeiden, und so hatten sie diese Möglichkeit schnell wieder verworfen. Nach einigem Überlegen waren sie schließlich übereingekommen, dass Anna den Tod ihres Mannes beim Vogt von Bischofstein melden sollte.
Der Vogt und die Bauernmiliz hatten ihre Zelte auf dem Hülfensberg aufgebaut, da ihnen Gerüchte zu Ohren gekommen waren, dass Adlige lutherischen Glaubens beabsichtigten, die Wallfahrt zu stören. Doch bisher war alles ruhig geblieben.
Anna hatte all ihren Mut zusammengenommen und war zum Zelt des Vogtes gegangen. Zitternd und weinend hatte sie ihm mitgeteilt, dass ihr Mann im Wald
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