Das Hexenmal: Roman (German Edition)
Augen ereignete, doch taten sie nichts, um dem Mädchen zu Hilfe zu kommen. Stattdessen harrten sie regungslos aus, schienen mit dem Boden verwachsen zu sein. Nur ihre Gestik verriet ihre Gefühle.
Eine Frau presste ihren Handrücken auf den Mund und biss fest zu, um nicht laut aufschreien zu müssen. Einer anderen standen Tränen in den vor Entsetzen weit geöffneten Augen. Ein junges Paar hielt sich eng umschlungen, das Gesicht der jungen Frau in der Schulter ihres Liebsten versteckt. Ein alter, krummbeiniger Mann hielt die Hände vor der Brust gefaltet und murmelte ein Gebet.
Burghard, der Franziskaner, nahm aus den Augenwinkeln einen jungen Mann wahr, der in den hinteren Reihen stetig in die Luft sprang. Das Gesicht des Mannes wirkte aus der Ferne schmerzverzerrt und schien von Tränen zu glänzen. Immer wieder sprang der junge Mann in die Höhe. Selbst, als die Kräfte ihn zu verlassen drohten, stieß er sich noch entschlossen vom Boden ab.
Dann, plötzlich, lächelte er unter seinen Tränen, als das Mädchen auf dem Scheiterhaufen sich ihm zuzuwenden schien. Der Mönch glaubte zu sehen, wie sich die Blicke der beiden zwischen Rauch und lodernden Flammen fanden. Es schien Burghard, als ob sich das vor Qual verzerrte Gesicht des Mädchens entspannte, dass es für einen kurzen Augenblick ebenfalls lächelte. Und dann schrie die junge Frau plötzlich all ihren Schmerz hinaus, um kurz darauf für immer zu verstummen.
Die Menschen bekreuzigten sich und verließen langsam den Platz, um ihrem Tagwerk nachzugehen. Nur der Henker mit
seinen Gesellen blieb zurück und überwachte das Abbrennen des Scheiterhaufens. Sie würden später das, was davon übrig war, zusammenfegen und in einen Behälter füllen. Diesen würde man im nahen Fluss entleeren, damit nichts von der Hexe in den Himmel einfahren konnte.
Der Blick des Franziskaners suchte den Platz nach dem jungen Mann ab, der anscheinend zu dem Mädchen gehört hatte. Er entdeckte ihn an eine Häuserwand gelehnt. Verdeckt durch einen Mauervorsprung, blickte er reglos auf den Scheiterhaufen. Burghard ging auf ihn zu und legte dem Mann die Hand auf die Schulter.
»Kann ich Euch helfen, mein Sohn?«, frage er sanft und setzte dabei den mitfühlenden Blick auf, den er bei seinen älteren Mitbrüdern abgeschaut hatte.
Der junge Mann löste sich aus seiner Erstarrung und sah den Franziskaner an. Es schien einige Sekunden zu dauern, bis die Frage zu ihm durchgedrungen war. Dann brannte dem jungen Mönch Wut und Hass entgegen.
Flüsternd, mit heiserer, aber doch kraftvoller Stimme, fragte der Angesprochene: »Wie alt bist du?« Verblüfft über diese Frage antwortete der Mönch: »Ich zähle neunzehn Jahre.«
»Und ich bin dreiundzwanzig Jahre alt. Also älter als du. Wie kann ich dann dein Sohn sein? Wie willst du mir helfen? Du, der du dafür mitverantwortlich bist?«
Erschrocken blickte Burghard den Mann an. Als er dessen zornigen Blick sah, kehrten seine Kopfschmerzen wie Hammerschläge zurück. Mit kaum unterdrückter Wut klagte der Mann den Franziskaner an. »Ich habe dich bei dem Prozess gesehen. Ihr alle habt sie dahin gebracht. Sieh, was ihr angerichtet habt …«
Grob packte der Mann den Mönch an den Schultern und drehte ihn zu den noch immer lodernden Flammen um. Was dort auf dem Scheiterhaufen zu sehen war, war nicht mehr als
menschliches Wesen zu erkennen. Burghard würgte. Er hörte den Mann lachen, als sei er dem Wahnsinn nahe.
»Schau dir genau an, welche Sünde ihr begangen habt«, zischte er dem Franziskaner ins Ohr. »Glaubst du, dass dir ein Platz im Himmelreich noch sicher sein wird? Ihr alle werdet ebensolche Qualen erleiden wie Marie. Schlimmere noch, denn ihr habt zwei Leben auf dem Gewissen.«
Fragend starrte der Mönch den Aufgebrachten an.
»Ah, ich sehe, dass du verstehst, was ich meine … ja, Marie trug ein Kind unter ihrem Herzen. Mein Kind. Und deshalb seid ihr zweifache Mörder …«
»Aber sie war eine böse Frau«, stammelte der Mönch. »Der Richter hat das Urteil gesprochen. Und in seiner Predigt hat der Hofprediger das Todesurteil gepriesen und sie eine Teufelsbraut genannt. Auch war sie geständig. Sie hat zugegeben, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Ihre Nachbarn haben es bezeugt. Außerdem wurde ihr der magische Mord an einem Verwandten zur Last gelegt … Warum hat sie nicht gesagt, dass sie guter Hoffnung ist. Nie und nimmer hätte sie dann brennen müssen.«
»Schweig, du Narr. Glaubst du, das spricht dich frei?
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