Das Hiroshima-Tor
Gerüst war auf einer Wand verewigt worden, ebenso ein Mann mit Pferdewagen, der im Moment
der Bombenexplosion sein Pferd mit der Peitsche antrieb.
Die Monate nach der Bombe waren von Chaos, Hunger und Kriminalität geprägt. Zigtausende Verwundete starben. Die Überlebenden
waren äußerlich von entsetzlichen Narben entstellt. Nicht minder schlimm waren die Narben im Inneren der Menschen. Wie Tausende
andere litt auch ich unter Fieberschüben, unerklärlicher Anämie und Müdigkeit. Noch ärger allerdings waren bei mir die Niedergeschlagenheit
und Beklemmung, die in den kommenden Jahren jeden einzelnen meiner Tage überschatteten. Man nannte uns Überlebende
Hibakushis
, und dass man uns mit Argwohn begegnete, machte es nicht leichter. Für viele war es schon schwer, eine Arbeit zu finden.
Ich vertiefte mich in meine Studien, das war die einzige Art, etwas Sinnvolles zu tun. Sie hielten mich in der Gegenwart und
fern von den Erinnerungen.
Ich lernte Maeko kennen, und wir heirateten. Im Jahr 1957 trat das Krankenpflegegesetz für die Opfer der Atombombe in Kraft.
Vier Gruppen hatten ein Anrecht auf Unterstützung: 1. Diejenigen, die sich zum Zeitpunkt der Explosion an der Stadtgrenze aufgehalten hatten. 2. Diejenigen, die bis zu vierzehn Tage nach der Explosion im Umkreis von zwei Kilometern vom Explosionsort waren. 3. Diejenigen, die in physische Berührung mit Verletzten oder Toten gekommen waren. 4. Diejenigen, die
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sich zum Zeitpunkt der Explosion in der Gebärmutter einer Frau aus einer der drei genannten Gruppen befanden.
Um mich machte ich mir keine Sorgen, aber der vierte Punkt steigerte meine seelische Not. Meine Frau war keine
Hibakusha
, dennoch ängstigte ich mich zu Tode, als sie ein Kind erwartete. Fast jedes sechste Kind, das in den Jahren nach der Bombe
in Hiroshima zur Welt kam, wies Anomalien auf. Am weitesten verbreitet waren Probleme mit den Knochen, der Muskulatur, der
Haut, den inneren Organen oder mit dem Gehirn, viele hatten missgebildete Ohren, Nase oder Mund, einige kamen ohne Gehirn
auf die Welt.
Unser Sohn wurde gesund geboren, und wir gaben ihm den Namen Isama Nobu. »Isama« bedeutet Tapferkeit und »Nobu« Wahrheit.
Er wurde Biologe.
Timo wollte Heli die Kopien geben. »Nishikawa beschreibt die Ereignisse von Hiroshima.«
Sie machte keine Anstalten, die Blätter entgegenzunehmen. »Ich kenne das.«
»Ich meine nicht Hiroshima allgemein, sondern Nishikawas Erfahrungen.«
»Die meine ich auch.«
Timo sah sie überrascht an. »Du weißt, was er in Hiroshima miterlebt hat?«
Sie nickte.
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Timo aus, wie Tinte, die aus einem umgestoßenen Glas rinnt. »Wo bist du darauf gestoßen?«
Kaum hatte er die Frage gestellt, kam er selbst auf die Antwort. Warum war ihm der Zusammenhang nicht früher eingefallen?
Er befeuchtete seine trockenen Lippen. »In welchem Jahr warst du am CERN?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
Heli starrte aus dem Fenster, obwohl die Maschine noch immer in den Wolken hing.
»Hast du gehört?« Timo griff nach Helis Arm. »War das 1989?«
|399| Sie starrte aus dem Fenster wie eine Statue, aber schließlich nickte sie.
Timo hielt sich an den Armlehnen fest. Er hatte das Gefühl, als ginge ihm der Sauerstoff aus. »Hast du ... hast du Nishikawa kennen gelernt?«
»Nein.« Sie blickte unverwandt aus dem Fenster, durch das man nichts als Grau sah. »Aber einer aus seinem Team sprach oft
von ihm. Toshiko Ito.«
Timo lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und spürte, wie der Schock ihm Übelkeit bereitete.
»Wir hatten einen gemeinsamen Bekannten. Lucas«, sprach Heli weiter. »Lucas Cahill. Ich war mit ihm zusammen. Bis mir klar
wurde, dass er versuchte, mich für dieselbe Tätigkeit anzuwerben, die er selber ausübte. Russische Wissenschaftsspionage.
Lucas gab Informationen aus dem CERN an einen Russen namens Stepan weiter.«
Der Link zwischen Heli Larva und Nishikawa stürzte Timo immer tiefer in ein dunkles Labyrinth. Es war zusehends offensichtlicher,
dass Heli Larva nichts mit den Attentaten in Olkiluoto zu tun hatte, dafür aber umso mehr mit der KG B-Diskette . Timos Herz raste, als ihm die Zusammenhänge immer klarer wurden.
Heli wandte ihm das Gesicht zu. »Haben dir die Leute von der SiPo nicht gesagt, dass sie versucht haben, mich nach meinen
Kontakten zu Lucas Cahill auszufragen?«
»Nein«, seufzte Timo. »Erzähl du es mir.«
»Es gibt nichts
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