Das Hiroshima-Tor
Zeromski?«
»Ja«, sagte Zeromski zu dem englischsprachigen Anrufer. Eine Welle der Zuversicht durchlief ihn, und er richtete sich unwillkürlich
auf. Womöglich kam der Anruf von dem amerikanischen Verlag, dem er sein Manuskript geschickt hatte.
»Hier ist Kim Jørgensen. Sie kennen mich nicht, aber ich möchte mich gern mit Ihnen treffen. Wo sind Sie?«
|102| 15
Nachdem er am Dienstag schließlich mit der Morgenmaschine von Helsinki in Brüssel angekommen war, ging Timo an seinem Arbeitsplatz
sofort zu seinem Chef – trotz aller Müdigkeit und Niedergeschlagenheit.
Es ärgerte ihn, sich das eingestehen zu müssen, aber Rautio hatte Recht. Es kam zunächst darauf an, die Echtheit des Seine-Materials
festzustellen. In derartigen Spionagefällen waren handfeste Beweise extrem wichtig. Vor allem jetzt, da Präsidentin Heino
unter Verdacht stand und da im Umfeld ihrer politischen Konkurrentin, Premierministerin Lahdensuo, offenbar versucht wurde,
dies öffentlich zu machen. Die Beteiligung der Premierministerin selbst war zwar wahrscheinlich, aber nicht unbedingt sicher.
Asko Lahdensuo hätte allein oder mit seinem Bruder auf die Idee kommen können, das KG B-Material vor den Wahlen gegen die Präsidentin einzusetzen.
»Ich brauche Kopien von dem Seine-Material«, sagte Timo ohne nähere Erklärungen, nachdem er Wilsons Büro betreten hatte.
»Ich habe doch schon gesagt, dass wir in dem Fall nicht ermitteln.«
»Die Amerikaner ermitteln.«
»Sie setzen ihre Ressourcen dort ein, wo sie es für sinnvoll halten. Wir investieren unsere geringen Mittel dort, wo wir es
wichtig finden.«
Timo erkannte an Wilsons ungeduldigem Gesichtsausdruck, dass Insistieren nichts nützte, darum änderte er die Taktik.
»Ich möchte noch einmal den Teil sehen, der mit Finnland zu |103| tun hat. Das ist eine wichtige Sache für uns. Du hast selbst gesagt, dass in Finnland noch nicht alle schmutzige Wäsche aus
dem Kalten Krieg gewaschen ist.«
Wilson sah Timo einen Moment an, seufzte und füllte ein Formular aus. »Lass die Kopie durch den Reißwolf laufen, wenn du sie
hinlänglich unter die Lupe genommen hast. Und keinen Mucks zur SiPo, dass du sie bekommen hast, sie scheinen auf diesen Fall
enorm eifersüchtig zu sein.«
In seinem Büro angekommen, schloss Timo sorgfältig die Tür hinter sich. Auf dem Formular stand die Bezeichnung des Materials:
SEINE / FINNLAND. Als Maßnahme war daneben eingetragen: KOPIE, 1 EX. Darunter stand Wilsons Unterschrift.
Timo spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er nahm das Formular, deckte die von Wilson geschriebenen Wörter mit Papierschnipseln
ab und machte eine Kopie. Unter das neue, »leere« Formular legte er das von Wilson, dann drückte er beide gegen die Fensterscheibe
und pauste das von Wilson geschriebene Wort SEINE sowie die Unterschrift des Chefs ab. Das Wort FINNLAND ließ er weg.
Timo blickte auf das unschuldig wirkende Formular, durch das Wilson ihn ermächtigte, eine Kopie von geheimem Material zu machen
– und zwar vom gesamten Material. Für die Verifizierung war das unumgänglich, denn es konnten überall Aspekte enthalten sein,
die den Ursprung des Materials bewiesen, nicht nur in dem Teil, der Finnland betraf.
Er steckte das kopierte Formular in die Innentasche seiner Jacke und trat auf den Flur. Wenn die Fälschung herauskam, würde
das Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen. Würde er der Sache aber nicht nachgehen, bliebe womöglich die Wahrheit über einen
eklatanten Missstand, der Einfluss auf die jüngere Geschichte Finnlands und auf sein eigenes Leben gehabt hatte, für immer
verborgen.
Es gab keine Unklarheit darüber, was schwerer wog, darum waren jetzt alle Mittel recht. Vor allem weil in Lahdensuos Diktiergerät
eine Zeitbombe tickte, die jederzeit hochgehen konnte.
|104| Timo ging durch die feuersichere, gepanzerte Tür ins TER A-Archiv . Die Angestellte aus Luxemburg, die hinter dem Schalter etwas auf dem Computer schrieb, hatte diesen Finnen schon immer verabscheut,
den es aus den tiefsten Wäldern in die Zivilisation verschlagen hatte.
»Madame Doussie«, sagte Timo darum so freundlich wie möglich.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die sorgfältig geschminkte Frau. Der Inhalt des Satzes stand in so eklatantem Widerspruch
zu dem barschen Tonfall, dass Timo am liebsten geschmunzelt hätte.
»Ich bräuchte hiervon eine Kopie.«
Möglichst lässig und selbstverständlich reichte er ihr
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