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Das Hiroshima-Tor

Titel: Das Hiroshima-Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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seiner Kindheit in China war es dem Jungen schwer gefallen, sich an das Leben in der kleinen Ortschaft
     Fårdmosen zu gewöhnen. Der sportliche Junge hatte sich auf fernöstliche Kampfsportarten und Tischtennis spezialisiert, Disziplinen,
     bei denen man extrem gute Reflexe brauchte.
    Nach dem Studium hatte sich Jørgensen dann seinen Traum erfüllt: Er war zum Studium nach China zurückgekehrt. Für die Eltern
     war der Weggang ihres Sohnes eine schmerzliche Erfahrung gewesen, aber Jørgensen hatte keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit
     seiner Absichten aufkommen lassen.
    Es war die richtige Entscheidung gewesen, denn in Peking waren die glücklichsten Jahre seines Lebens gefolgt. Er hatte ein
     Zimmer im Hinterhof eines altertümlichen Viertels gemietet und Bad und Küche mit einem Jungen geteilt, der aus dem fernen
     Xuzhou gekommen war. Sein Mitbewohner hatte in einer Underground-Band |189| Bass gespielt und in der Wohnung Platten aufgelegt, weshalb sie beide schließlich rausgeflogen waren.
    In seinem ersten Studienjahr, es war ein klarer windiger Frühling in Peking, hatte er Mei kennen gelernt. Der Sommer war wie
     im Rausch vergangen, er konnte sich nur noch an die Strahlen der untergehenden Sonne in Meis Haaren und auf der Oberfläche
     des Teichs auf dem Campus der Universität erinnern. Stundenlang hatten sie im Schatten eines Pavillons gesessen, für ihre
     Prüfungen gelernt und über Musik, Bücher, Filme und Politik geredet.
    Durch die Einparteientyrannei waren viele seiner Kommilitonen voller negativer Energie gewesen, die sie nirgendwo loswerden
     konnten – bis die Unruhen losgingen. Da hatten ihre Leidenschaften und ihre Frustrationen ihr Ventil gefunden.
    Meis Eltern taten sich anfangs schwer, den abendländischen Schwiegersohn zu akzeptieren, obwohl er fließend Chinesisch sprach
     und in vielen Dingen chinesischer war als sie selbst. Dann war ein Bekannter von ihnen, ein Mann namens Cong, auf Jørgensen
     aufmerksam geworden. Über Congs Arbeitsplatz besaß nicht einmal Mei genaue Vorstellungen – mal war die Rede von einem hohen
     Beamten, mal hieß es, er sei Offizier. Irgendwann hatte Cong ihn zum Essen eingeladen und sich lange und intensiv mit ihm
     unterhalten. Nach einem Jahr unregelmäßiger Treffen hatte Cong Jørgensen zur Jagd nach Shidu eingeladen. Zur Jagdgesellschaft
     hatten auch vier andere Männer gehört, ernste Chinesen mit harter Schale.
    Jørgensen hatte bereits geahnt, worum es ging, aber erst beim dritten Jagdausflug hatte Cong begonnen, vorsichtig das Terrain
     zu sondieren: Ob Jørgensen eventuell daran interessiert wäre, zu reisen oder für kurze Zeit in Europa oder in den USA zu leben?
    Alle Fragen hatte Jørgensen mit ja beantwortet, dabei hatte er seine Begeisterung nur mit Müh und Not verbergen können. Er
     hatte gewusst, dass er die Antwort auf ein spezifisch chinesisches Problem war: Ein Mensch chinesischer Herkunft wurde |190| im Westen sofort an seinem Aussehen erkannt. Für seine Aufgaben konnte der chinesische Geheimdienst keine Chinesen einsetzen.
     Das war vor allem bei operativen Geheimdienstprojekten ein Problem. Und tatsächlich erwiesen sich Congs Jagdgefährten als
     Mitarbeiter des chinesischen Auslandsnachrichtendienstes.
    Jørgensen sah auf die Uhr. Der Nachbarin zufolge würde Frau Vaucher-Langston spät am Abend »von einer Reise« zurückkehren.
     Die Nachbarin war misstrauisch gewesen und hatte nicht sagen wollen, wo die Dame war. Jørgensen hatte sich daraufhin die Wohnung
     angesehen – allerdings hatte er nichts gefunden, was auf das Reiseziel hingedeutet hätte.
    Er hatte nicht in der Wohnung gewartet, denn die Polizei war aufgrund der Explosion hyperaktiv. Die Risiken des Vorhabens
     wuchsen Stunde für Stunde.

|191| 27
    »
...
gibt es keine Informationen. Die Polizei kommentiert auch nicht, ob hinter der Explosion ein Terroranschlag stecken könnte.«
    Timo starrte in seinem Bed & Breakfast-Zimmer in der Tenison Road in Cambridge auf den Fernseher. Das Gerät hatte
     nur eine Zimmerantenne, darum wackelte das Bild, und der Ton war schlecht. Der schäbige Teppichboden, die schweren Möbel und
     die Blumenvorhänge am hohen Fenster vermochten seine Stimmung nicht zu heben. Er war müde, er hatte Angst und er war durcheinander.
    Er sah auf das unscharfe Bild vom brennenden Trinity College und versuchte seine Gedanken zusammenzuhalten. Dann kam eine
     neue Meldung, und er schaltete den Fernseher aus. Eine Weile starrte er auf das

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