Das Hiroshima-Tor
lassen sich saubere und logische Schemata
erstellen. Aber ist die Wirklichkeit so linear? Klimaveränderungen, Einschläge von Asteroiden, Naturkatastrophen und Seuchen
haben Rückschläge in der Entwicklung bewirkt und letztlich für einen wesentlich vielförmigeren Entwicklungsverlauf gesorgt,
als man heute einsehen will.«
Sie passierten ein abgerissenes Haus, dessen Nachbargebäude von rostigen Eisenträgern gestützt wurden.
»Die Paläoanthropologen ziehen ihre Schlüsse über die Geschichte der menschlichen Spezies auf der Grundlage von unglaublich
wenigen konkreten Vorgaben. Ständig werden neue Fossilien gefunden, die unsere Vorgeschichte neu schreiben. Gerade erst ist
im Olorgesaili-Tal in Kenia der Schädel eines Vorläufers des Menschen gefunden worden, der 930 000 Jahre alt ist. Und zwar nicht irgendein Schädel. Er ist um ein Drittel kleiner als alle anderen Schädel des
Homo erectus
, weshalb der Verdacht aufkam, man könnte auf eine vollkommen neue hominide Art gestoßen sein.«
»Sie meinen, in unserer fernen Vorgeschichte könnte es eine vor Urzeiten schon untergegangene Kultur gegeben haben, von der
wir gar nichts wissen?«, fragte Timo in dem Versuch, sich langsam weiter heranzutasten. Das war eine interessante, aber |238| alte Theorie – hinter der KGB und CIA allerdings garantiert nicht her waren.
»Nichts schließt diese Möglichkeit aus. Die etablierte Vorstellung lautet, dass sich die Kulturen in Mesopotamien, im Tal
des Indus, in Ägypten und im Amerika vor Kolumbus spontan herausgebildet und entwickelt haben, fast aus dem Nichts, und unabhängig
voneinander. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man sich in all den genannten Kulturen gewisser Fertigkeiten und Erkenntnisse
bedient hat, die von einer früheren, warum auch immer untergegangenen Kultur übernommen wurden.«
»Aber warum hätte diese Kultur denn keine Spuren hinterlassen sollen?«
»Werfen wir eine Hand voll Reiskörner auf ein Fußballfeld, schichten wir Erde darüber, hier einen Zentimeter, dort fünf, und
setzen wir dann den Platz halb hoch unter Wasser. Dann fangen wir an, nach den Reiskörnern zu suchen, indem wir die Oberfläche
von trocken gebliebenen, einige Quadratzentimeter großen Stellen aufkratzen. Wie wahrscheinlich ist es, auch nur ein einziges
Reiskorn zu finden?«
Timo erwiderte den Blick des alten Mannes. »Nicht sehr wahrscheinlich.«
»Gegen Ende der letzten Eiszeit, vor 7000 – 17000 Jahren, kam es in der Welt unserer Vorfahren zu gewaltigen Umwälzungen. Die Eismassen, die Nordeuropa und Nordamerika bedeckt
hatten, schmolzen. Überall auf dem Globus kam es zu riesigen Überschwemmungen, der Meeresspiegel stieg um mehr als 100 Meter, 25 Millionen Quadratkilometer bewohnbares Land gerieten unter Wasser ...«
Beim Gehen kam der ältere Herr ziemlich aus der Puste, und sein Redefluss wurde unterbrochen. »Menschen haben sich schon immer
am Rand von Gewässern angesiedelt, weshalb jene Zeit eine Katastrophe für die Menschheit war. Das bedeutet, wenn wir etwas
über unsere Vorväter erfahren wollen, oder über eine andere Spezies, die auf der Erde gelebt hat, müssen wir jene 25 Millionen Quadratkilometer, die von Wasser bedeckt sind, erforschen |239| ... Tatsächlich aber ist dieses Gebiet unerforschtes Terrain. Es ist einfach unglaublich, wie wenig man darüber weiß.«
Sie bogen in eine schmale Straße ein. Eine matte Laterne beleuchtete eine Palette Dachziegel. Der Geruch der Wände erinnerte
Timo an den Besuch bei seinem Vater in Rekola. Er hatte das Gefühl, als habe sich dieser Gestank der Einsamkeit und der Verbitterung
für immer in seiner Nase festgesetzt.
»Das Problem betrifft nicht allein die unter Wasser liegende Erdoberfläche. Auch die Sahara war einst eine üppige Oase, die
aber von Archäologen kaum erforscht worden ist.«
Während er sprach, nahm Zeromski die Schlüssel aus der Tasche. »In Ägypten hingegen wird seit hundert Jahren um die Wette
gegraben, und immer wieder stößt man auf Funde, die unsere gängigen Ansichten von alten Zivilisationen und der Abfolge erdgeschichtlicher
Ereignisse im Nu hinfällig werden lassen ... Der Fund des Bootsgrabes von Abydos zum Beispiel oder die Gräber von Elkab in Oberägypten. Auf so wackligen Füßen steht
unser Wissen über Ägypten, und dabei ist das Land mehr als jede andere Region erforscht worden«, schnaubte Zeromski und steckte
den Schlüssel ins
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