Das Höllenschiff: Historischer Kriminalroman
gerichtet. Hawkwood fragte sich, wie lange es gedauert hatte, bis die Nachricht von der bevorstehenden Hinrichtung sich im Gebiet der Flussmündung herumgesprochen hatte. Bestimmt nicht lange, wenn die Buschtrommeln der Navy so effizient waren wie die des restlichen Militärs, die er kennengelernt hatte.
Langsam verliefen sich die Gefangenen. Die Stimmung war gedämpft. Es schien, als werde allen die Bedeutung dessen, was geschehen war, erst jetzt richtig bewusst. Viele düstere Blicke wanderten hinauf zur Rahe. Hawkwood kannte das. Die kollektive Euphorie, mit der die Hinrichtung begrüßt worden war, wich jetzt einem gewissen Zweifel und der allmählichen Erkenntnis, dass durch das Mitwirken des Gefangenentribunals praktisch jeder Gefangene an Bord den Feind unterstützt hatte.
Hawkwood hatte auch gemerkt, dass seine und Lasseurs Anwesenheit an Deck mit Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Sie zogen die Blicke auf sich, teilweise heimlich, bei manchen ganz offen; einige voller Respekt, andere vorsichtig, und langsam wurden die Wachen des Krankenreviers nervös und bestanden darauf, Hawkwood wieder unter Deck zu bringen.
Er warf einen Blick aufs Quarterdeck. Das wurde gerade geschrubbt, die Milizionäre hatten die Seile gelöst und ließen die Leichen herab. Hawkwood wusste, dass es eigentlich Tradition war, die Leichen von Gehängten ein paar Stunden als Warnung hängen zu lassen. Er vermutete, dass Hellard diese Toten herunterbringen ließ, entweder als Geste dem Tribunal gegenüber, oder was wahrscheinlicher war, weil der Geruch der Leichen in der Hitze nur schwer zu ertragen gewesen wäre.
Der Arzt Girard war auch dabei zugegen. Hawkwood nahm an, dass er den Tod feststellen musste; obwohl daran eigentlich kein Zweifel bestand. Denn wenn es eine Fertigkeit gab, in der die Navy es zur Meisterschaft gebracht hatte, dann war es das Knüpfen von Knoten.
Hawkwood und Lasseur kehrten auf ihre Pritschen zurück. Selbst mit dem Geruch des Verfalls, der aus jeder Pore dieser Abteilung drang, war es nach dem überfüllten Oberdeck eine Erholung, wieder im Krankenrevier zu sein.
»Was glauben Sie, wann wir verlegt werden?« Lasseur sah nachdenklich aus.
Hawkwood zuckte die Schultern und sah nach hinten zu den Wachen, die ihre alte Position bei der Luke wieder eingenommen hatten. »Könnte jederzeit passieren. Ich würde vermuten, sobald der Commander die Genehmigung bekommt. Vor der Hinrichtung war nicht damit zu rechnen. Da sollten wir auf jeden Fall dabei sein. Hellard und die Admiralität würden keine Gelegenheit verpassen, die Gefangenen auf der Samson durch uns warnen zu lassen, was passiert, wenn sie aufmüpfig werden. Mich würde es gar nicht wundern, wenn die Arschlöcher uns nur deshalb geschont haben, damit wir die gute Nachricht verbreiten und alle Aufrührer das Fürchten lehren.«
Lasseur sah Hawkwood von der Seite an. »Hat man Ihnen schon jemals gesagt, mein Freund, dass Sie ein sehr misstrauischer Mensch sind?«
»Das sagt man mir ständig«, erwiderte Hawkwood. »Es ist wie ein Fluch.«
Lasseur zwang sich zu einem Grinsen, strich sich über den Spitzbart und legte den Arm über die Augen.
Merkwürdig, dachte Hawkwood, wie einfach es war, sich mit dem Schicksal der Gefangenen zu identifizieren und wie schnell die Admiralität zum Feindbild geworden war.
Seine Gedanken wurden unterbrochen von dem Tritt schwerer Stiefel und einem Schwall von Obszönitäten. Zwei Gefangene kamen gerade die letzte Stufe der Treppe herunter. Sie schleppten eine Leiche, schwer und unhandlich. Lasseur entfuhr ein Schreckenslaut. Die Gehängten, die vorhin von der Rahe genommen worden waren, wurden heruntergebracht.
Hawkwood und Lasseur sahen, wie die Toten nacheinander den Krankenwärtern übergeben wurden. Unter denen, die sich als Leichenträger betätigen mussten, waren auch Millet und Charbonneau. Sie fingen Hawkwoods Blick auf und nickten ihm kaum wahrnehmbar zu. Am Schluss kam Girard, der Arzt.
Hawkwood überlegte, wer wohl die brillante Idee gehabt hatte, dass die Gefangenen eine so aktive Rolle bei der Vollstreckung des Todesurteils spielen sollten. Wenn es Hellard gewesen war, dann war es ein genialer Schachzug. Matisse und seine Römer hatten einen Einschüchterungskrieg gegen ihre Mitgefangenen geführt. Wenn Hellard es geschafft hatte, den Hass, den alle Gefangenen dem Korsen und seinen Mitläufern entgegenbrachten, auf geschickte Art und Weise dem Tribunal zu vermitteln, dann hatte er nicht nur auf einen
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