Das Hohe Haus
geteilten Überzeugungen des ganzen Hauses offenbart; als anschließend die persönlich erzählte Lebensgeschichte des Josip Juratović, der als junger kroatischer Gastarbeiter in die SPD eintrat, die Standpunkte des Parlamentariers beglaubigt; als noch später der Antrag unter dem Titel »Kein Zugang von Kindern und Jugendlichen zu Kriegswaffen bei Bundeswehr-Veranstaltungen« als Verunglimpfung und »Ächtung« der Bundeswehr verfälscht wird; oder zuletzt, als der Entwurf eines »Gesetzes zur Begrenzung von Parteispenden und Transparenz beim Sponsoring für Parteien« am Widerstand der Profiteure der bestehenden Praxis scheitert, die sich ja auch gegen die »Strafbarkeit von Abgeordnetenbestechung« sperren.
Aber sagt Artikel 38 des Grundgesetzes nicht: »Abgeordnete sind an Weisungen und Aufträge nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen«? Und heißt »unterworfen«, der Abgeordnete wird klein unter der moralischen Macht des Gewissens? Die Debatte endet jedenfalls mit der Verweigerung der Regierungskoalition und dem von Gelächter begleiteten Vorschlag von Raju Sharma, dem Bundesschatzmeister der Linken: »Lassen Sie uns doch hier und heute die Vereinbarung treffen, dass wir alle ab heute bis zur Bundestagswahl keine Unternehmensspenden annehmen und unsere Parteitage nicht mehr sponsern lassen. Wir sind dabei. – Sind Sie es auch?« Wären sie es, es käme einer Systemveränderung gleich.
Mittwoch, 20 . Februar, 13 Uhr
Die Sexismus-Debatte um Rainer Brüderle wärmt alte Stereotypen auf: Das Private ist wieder politisch. Die Überreste von Richard III . werden unter einem britischen Parkplatz gefunden. Der beinamputierte Mittelstreckenläufer Oscar Pistorius erschießt seine Freundin. In der Supermarkt-Lasagne wird Pferdefleisch entdeckt. Cascada reist für Deutschland zum Eurovision Song Contest nach Malmö. Papst Benedikt XVI . hat seinen Rücktritt angekündigt, Annette Schavan den ihren vollzogen.
Während ich Parlamentarier in ihrem Für-sich-Sein beobachte, auf der Treppe, allein, unbegleitet von Dienstleistern, überlege ich, ob es das geben kann: den Typus des politikverdrossenen Politikers. Auf seine Weise könnte er sogar überzeugender verdrossen sein, kennt er die Grenzen seiner Entscheidungsgewalt doch besser als alle anderen. Ich lasse den Blick schweifen. Es gibt jetzt auch unter Abgeordneten eine Klasse »Stützen der Gesellschaft«, die durch Empathielosigkeit und Pragmatismus hervorsticht, solche, die von der Rührung nie in die Knie gezwungen, von der eigenen Sachkenntnis nie überrascht wurden. Sie haben es nur bis zur Ironie gebracht, leben im Interregnum, haben es zu allem gleich weit. Ihre Praxis existiert unabhängig von ihren Erkenntnissen, vom Verständnis der Welt.
Erst da setzt der dubiose Begriff der Glaubwürdigkeit ein: Den einen unterstelle ich eine Lebenspraxis, die sich nach ihren Erkenntnissen richtet, den anderen – meist jenen mit dem überdefinierten Äußeren – glaube ich nichts. Sie gehen nicht in die Irre, sie haben keine Zeit. Ihre Geradlinigkeit verdankt sich der Klarheit ihrer strategischen Ziele. Die Sachverhalte könnten schwierig sein, das Kalkül ist es nie. Ihre Parteigänger haben es leicht, rabiat zu sein, auch skrupellos, sie sind nicht demaskierbar. Was sich ihnen in den Weg stellen könnte, wären allenfalls ein Unfall, eine Krankheit, eine Wahlniederlage.
Nicht zu vergessen: Der Bundestag ist das Hollywood der Politik. Dies ist der Fluchtpunkt der Zielstrebigkeit. Sie alle hier kämpften sich durch, sagten, dass sie mitbestimmen, dass sie gestalten wollten, versprachen ihrem Wahlkreis, dass sie die Interessen der Bürger bei »denen da oben« vertreten würden. Man hat es hierher geschafft, zuvor aber Transparente hochgehalten, Plakate geklebt, hat an den Ständen der Partei unter Sonnenschirmen gestanden, ist von Tür zu Tür gegangen. Es gibt Menschen, die laufen herum, und ihr Gesicht will nirgends hin als ins Bett. Andere wollen ans Rednerpult. Da blühen sie.
Also gut, heute soll ich mich für die »Markttransparenzstelle für Kraftstoffe« und eine »Benzinpreis-App« interessieren. Das tue ich nicht. Anschließend wendet man sich in der Form der kurzfristig einberufenen »Aktuellen Stunde« einem Thema zu, das seine Durchsetzung dem ARD -Film »Ausgeliefert« verdankt, der die Arbeitsverhältnisse bei Amazon zum Thema hat. Doch bis auf die Tatsache, dass Ministerin Ursula von der Leyen zugegen ist, erweist sich die
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