Das Hohe Haus
Debatte als voraussehbar: Die eine Seite wird die Verletzung der Arbeitnehmerinteressen monieren, die zweite die Leiharbeit insgesamt beklagen, die Regierung dagegen wird »Leitplanken« sagen und »schwarze Schafe« und »Einzelfälle«. Das, was man immer sagen kann, übernimmt Matthias Zimmer ( CDU / CSU ). Er spekuliert à la Baisse, verleugnet jede humane Absicht beim politischen Gegner und statuiert: »Es geht Ihnen gar nicht um die Hilfe für die Menschen, meine Damen und Herren von der Opposition, es geht Ihnen darum, die Bundesregierung und die Zeitarbeit zu diskreditieren, und das ist falsch.«
Diese abgenutzte Finte macht jede Debatte hermetisch und imprägniert sie zugleich gegen jedes Interesse. In dem Augenblick, da sich die politische Praxis nur noch aus dem taktischen Selbsterhalt der Herrschaftsverhältnisse erklärt, gibt es keinen Grund, in Vergangenheitsbewältigung, Opferschutz oder Antirassismus etwas anderes zu erkennen als Strategie. Wo sich Politik allerdings derartig selbstbezüglich verwirklicht, gibt es auch für Bürger keinen Grund mehr, an ihr teilzunehmen.
Donnerstag, 21 . Februar, 9 Uhr
Peter Altmaier hat die möglichen Kosten der »Energiewende« auf eine Billion Euro beziffert und wird dafür als »Märchenpeter« bezeichnet. EU -Kommissar Oettinger kritisiert den zögerlichen Umgang mit dem EU -Aufnahmeverfahren für die Türkei. Es gibt Warnstreiks im Flugverkehr. Am Vorabend hat »der Bachelor« vor 22 , 2 Prozent des zuschauenden Publikums die Liebe gefunden und sie mit geschlossenen Lippen geküsst.
Heute bin ich mal gekommen, um alles zu mögen und mein Parlament wie etwas von mir Erstrittenes zu behandeln. Ja, heute sage ich mit Emphase: mein Parlament. Doch mögen die Sitze der Opposition auch hart sein, härter sind die der Tribüne. Deshalb will ich mir ab jetzt immer ein Kissen mitbringen. Der Tag wird sich ziehen, aber die Tribünenbänke sind für lange Verweildauer nicht geschaffen, die Plenarsessel schon. Eine Viertelstunde vor Sitzungseröffnung ist das Gedränge an der Garderobe groß. Ein Jugendlicher wird am Einlass aufgefordert: »Nehmen Sie bitte Ihr Kaugummi raus.« Es widerspricht der Würde des Hauses. Aber wird sich das Haus der Entsorgung des Kaugummis würdig erweisen?
In den Saal strömen Parlamentarier, mit Handschlag begrüßt, farbige Mappen werden verteilt, die Fotografen halten auch das fest. Ilse Aigner trägt jetzt den Pagenkopf, mit dem Michelle Obama gerade ihre Midlife-Crisis erklärte. Wolfgang Schäuble rast in Hochgeschwindigkeit die Rampe runter, helfende Hände ausschlagend, grüßende schüttelnd. Heute ist das Haus gut besetzt, eine Wichtigkeit liegt in der Luft, der Geräuschpegel steigt. Lange widmen sich die Fotografen dem Gespräch zwischen Thomas de Maizière und Rainer Brüderle.
Die Fraktionen bleiben unter sich, aber die Abgeordneten erscheinen einzeln, nehmen Witterung auf. Peer Steinbrück zeigt sich. Es folgt ein selektives Nicken, noch ausgewählteres Händeschütteln, ein Winken zu den rückwärtigen Bänken. Heute sind fünfzehn Kamerateams da, die Fotografen entscheiden sich zwischen den Stiefeletten von Sahra Wagenknecht und der Arena, in die gerade Angela Merkel trottet. Die Regierungsbank ist komplett, der Gong ertönt.
Eine Gruppe von Parlamentsreisenden aus Fehmarn ist da. Drei Tage haben sie für Berlin, eine Stunde für den Plenarsaal, danach die Kuppel, und was für ein Glück, dass es heute auch noch die Vereidigung der neuen Bildungsministerin Johanna Wanka zu bestaunen gibt! Vor der Rückwand geschieht das, neben der Deutschlandfahne. Die Schavan-Nachfolgerin trägt ein französisches Pelzkrägelchen, Merkel den üblichen Brustpanzer. Irgendwie ist dieser Pelzbesatz mit seiner Wirtschaftswunder-Eleganz geradezu ambitioniert, gemessen an den anderen Garderoben. Er ist wie Schleierkraut im Haar. Auch absolviert Wanka den Akt offenbar gern zügig, hebt die Schwurhand gekrümmt, schwört flüssig, nimmt Glückwünsche und Blumen geneigt entgegen.
Ihre Vorgängerin erlebt die eigene Verabschiedung in der fünften Reihe. Sie trägt einen violetten Schal zur schwarzweißen Anzugsjacke, quittiert den Applaus, der lang und herzlich prasselt, mit zunehmender Rührung. Endlich erhebt sie sich, wendet sich zum Saal, neigt den Kopf. Das Bedauern, so scheint es, eint die Fraktionen.
Um 9 Uhr 9 ist es vorbei. Die Kanzlerin tritt ans Pult zur Berichterstattung über die Einigung beim Europäischen Haushalt.
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