Das Hohe Haus
Tiefpunkt aller Debatten sein, die ich im Hohen Haus verfolgte.
Das Parlament als Ganzes ist ein arbeitsteiliges Gefühlswesen. Es bewegt sich dauernd durch unterschiedliche Empfindlichkeiten, und so klingt der Tag geradezu plakativ sensibel aus, als um 21 Uhr 40 Stefanie Vogelsang ( CDU / CSU ) ein Beispiel für Bürgersinn vorstellt. Es begann mit einer »Petition, die von einem engagierten Ehepaar, das oben auf der Tribüne Platz genommen hat, eingebracht worden ist. Dieses Ehepaar hat viele tausend Unterschriften gesammelt und in den Deutschen Bundestag eine Petition des Inhalts eingereicht, dass in Zukunft juristisch diejenigen, die mit einem Gewicht von unter fünfhundert Gramm leider tot zur Welt kommen, als Menschen, als Personen behandelt werden und nicht mehr als Sache oder gar als Klinikmüll.«
Der Applaus ist allgemein. Die Eintragung von sogenannten »Sternenkindern« im Personenstandsregister wurde durch eine Privatinitiative in die Wege geleitet. Der Eingabe lagen 8428 Mitzeichnungen, über 11 000 eingereichte Unterschriften sowie 19 484 Online-Unterschriften zugrunde. Die Initiative fand fraktionsübergreifenden Zuspruch, und die Anzahl der Unterschriften bewies allen Beteiligten, wie sehr das Thema bewegt. Der Schritt ist groß für die Betroffenen. Sie können nun auf den Standesämtern eine Bescheinigung erhalten, in der nicht von einer »Fehlgeburt« die Rede ist, sondern das Kind einen Namen trägt und als zur Familie gehörig erklärt wird.
Der Vorgang beweist, wie unmittelbar der Niederschlag sein kann, den Bürgerbeteiligung im Parlament findet. Er beweist aber auch, wie unterschiedlich die Temperaturgrade mitunter sind, mit denen das Parlament das nackte Leben begleitet – wie Schwund, wo es um das Töten durch deutsche Waffentechnik geht, wie ein Sakrament, wo es die Achtung des nicht-lebensfähigen Lebens betrifft.
Freitag, 1 . Februar, 9 Uhr
Wenn ich morgens auf ihn zulaufe, ihn hinter den Bäumen mehr erahne als erkenne, erscheint er mir als ein Findling. Tatsächlich stand der Reichstag ja 1959 , als umliegende Gebäude endgültig abgerissen waren, auf einer begrünten Brache. Schafe weideten dort, wo heute Litfaßsäulen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, die Grünfläche zum Lagern einlädt. Die Instandsetzung des Gebäudes war keineswegs selbstverständlich, angesichts der Befürchtung, dies könne als Hinwendung zu imperialem Großmachtstreben verstanden werden. Da sich die Parteien trotzdem einig waren, begann man 1961 mit dem Wiederaufbau. Das Pathos des Bildprogramms wurde gemildert, der Skulpturenschmuck reduziert, auch kappte man die Ecktürme, entfernte die Embleme. Man verputzte die Einschusslöcher, vergrößerte die Fensterflächen und tat alles, den Charakter eines Wehrbaus zu mindern.
Der Platz hatte schon lange an Popularität gewonnen. Bei der Feier zum 1 . Mai 1952 hatte sich etwa eine halbe Million Menschen vor dem Reichstag versammelt. Auf der Tribüne standen Ernst Reuter und Theodor Heuss, und dieser sagte: »Uns gegenüber liegt die Ruine des alten Deutschen Reichstages. Seine Vernichtung 1933 war das Signal, das Fanal zur drohenden Vernichtung des freien Willens in Deutschland. Wir alle leben und arbeiten, damit dieses Haus, aus den Ruinen neu entstanden, eines Tages wieder Herberge, Heimat und Werkstätte der deutschen Zukunft wird.«
Es wäre polemisch, den Bundestag vor diesem Ideal zu blamieren. Doch andererseits muss man ihn immer neu am Ideal der parlamentarischen Idee messen, um seine Realität zu begreifen, die auch den Missbrauch der Demokratie nie als etwas Überwundenes erachten darf. Wie hatte Joseph Goebbels 1928 in der NSDAP -Zeitung »Der Angriff« geschrieben: »Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen …« Und so kränkt ein leeres Plenum die Idee des Parlaments als Stätte einer lebendigen Selbstreflexion der Gesellschaft und ihrer Themen.
An diesem Morgen eröffnet Präsident Lammert die Sitzung mit den Worten: »Ich begrüße Sie alle herzlich, fast könnte ich es namentlich tun; das Plenum wird sich hoffentlich während des ersten Tagesordnungspunktes etwas auffüllen.« Zuerst geht es um den »Entwurf eines Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetzes«, bei dem sich, wie Lammert auch sagt, der Eindruck aufdränge, »dass die Entbürokratisierung mit der Bezeichnung beginnen sollte«.
Gemeint ist das »Gesetz zur Stärkung des
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