Das Hohe Haus
memoriert »fraktionsübergreifende« Anstrengungen, referiert Gefahren, war selbst Augenzeugin »in der Asse«. Sie spricht warm und verbindlich, der Applaus ist allgemein. Auch bei den folgenden Rednerinnen erlebt man, wie sich Einigkeit in einer Sache und die Einbeziehung der Bürger auswirken können. Es überträgt sich: Eine Mädchenklasse sitzt auf der Tribüne, sie wühlen sich in das Gesagte ein, ihre Blicke insistieren.
Der Ernst der Situation wird fassbar. Es geht, da ist man sich einig, um den größten Umweltskandal der bundesrepublikanischen Geschichte und seine gemeinsame Bewältigung. Es gibt keine Fraktion, die bagatellisierte oder dramatisierte. Man ist gemeinsam gegen die Privatisierung von Kontrollen, ist sich einig bei der Beschreibung des »Unheils«, bei der Bezifferung der Haushaltsmittel, der notwendigen Aufklärung der Bürger, denen niemand sagen kann, wann die Situation um diese 126 000 eingelagerten Fässer unkalkulierbar werde. Die Debatte ist anschaulich auch als Beispiel für sorgfältige Sacharbeit. Die Berichterstatter sind sämtlich Frauen. Sogar der neue niedersächsische Umweltminister hört zu, ist er es doch, der das Gesetz umzusetzen hat.
Man kann beobachten, was mit einem Problem passieren kann, wird es »aus dem politischen Gerangel« herausgeholt, um vor allem gelöst zu werden. Nicht nur das Problem, sogar die Aufmerksamkeit ist jetzt groß. Die Frauen referieren alle im Dienst der Sache. Die Männer kommen herrschaftlicher, auch floskelhafter daher. So versucht Matthias Miersch ( SPD ) eine parlamentarische Rede zu halten, wendet sich an alle Seiten, deklamiert: »Ich möchte an dieser Stelle ganz bewusst auch als Niedersachse sein …« Er spricht mit starker Stimme, beschwört gestisch, trägt sein Ich pastos wie eine Farbe auf, und schon rückt der Tatbestand wieder in die Distanz, hinter das Ego des Sprechers. Der Gesetzentwurf aber wird geradeheraus angenommen.
Und gleich noch einmal: Auch der nächste Fall taugt nämlich als Lehrstück für eine parteiübergreifende Erörterung, noch dazu in einem historisch brisanten Fall. Raju Sharma ( DIE LINKE ) setzt mit seiner Rede im Jahr 1803 ein. Damals schuf man Rechtsfrieden, indem man den Kirchen als Entschädigung für frühere Enteignungen alljährlich pauschalierte Summen für Personalkosten und Baulasten zusprach – Beträge, die also nichts mit der Kirchensteuer zu tun hatten. Die Weimarer Republik erließ dann den Verfassungsauftrag, diese Zahlungen einzustellen. Doch der neunzig Jahre alte Auftrag wurde nie erfüllt. Also erhalten die Kirchen immer noch per annum knapp eine halbe Milliarde Euro, die laut Verfassungsauftrag nicht gezahlt werden dürfte.
Der unbedarfte Bürger staunt, so wie an diesem Tag so mancher Parlamentarier staunt, dass ein Verfassungsauftrag nicht umgesetzt, eine immense Summe aus Steuergeld bezahlt und von der Bundesregierung »kein Handlungsbedarf« angezeigt wird. So, könnte man sagen, geht man weder mit dem Grundgesetz noch mit dem Geld der Bürger um, und weil offenbar alle angesichts der Faktenausbreitung ein wenig fassungslos sind, dokumentieren auch die Zwischenrufe vor allem ungläubiges Staunen.
Als Dieter Wiefelspütz ( SPD ) an das Rednerpult schleicht, seine Rede stockend in Fahrt gebracht hat, weiß man schnell: Das rituelle Linken-Prügeln wird diesmal ausbleiben müssen. Er setzt ein: »Ich habe eigentlich immer geglaubt, ich kenne unser Grundgesetz ganz gut. Ich musste mich aber eines Besseren belehren lassen. (…) Ich stellte fest, dass wir seit 1919 einen Verfassungsauftrag haben, der nicht erfüllt wird.« Sein Erstaunen über diese Lücke ist echt, er bekennt sich zum Respekt vor dem Antrag, auch weil er finde, man könne auf diese »Missachtung eines Verfassungsauftrages durch uns Parlamentarier (…) nicht wirklich stolz sein«. Und: »Das ist nicht wenig Geld.«
Die Situation, die hier entsteht, ist originell: Das Parlament muss sich schuldig bekennen, Geld zu verschwenden und dabei nicht einmal Raum für Deutungen oder für parlamentarische Scharmützel zu haben. Stattdessen führt jede neue Recherche nur tiefer in die Gewissheit des Versäumnisses, und so wendet sich Wiefelspütz endlich verbindlich, aber ratlos den Antragstellern zu: »Ich wäre sehr für einen kollegialen, fairen Diskussionsprozess. (…) Der jetzige Zustand kann im Grunde niemanden, der es mit unserem Grundgesetz ernst meint, wirklich zufriedenstellen.« Während das Thema zuletzt an
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