Das Hohe Haus
die Nichtanerkennung der Verluste, die Verachtung der Empathischen und Engagierten, die aus einem solchen Redner den legitimen Repräsentanten eines blasierten Zynismus macht, der noch den Mitarbeitern von Hilfsorganisationen vorwirft, dass sich die Not, die sie sehen, in ihren Zügen wiederfindet. Solche Verachtung mag ihm zwar den Beifall der CDU / CSU und der FDP einbringen, eigentlich aber verrät er die hehre Idee des Parlaments, das in diesem Augenblick dem Hohn über den Widerstand und das bürgerschaftliche Engagement applaudiert.
Es sind diese Stellen, die den Tiefstand nicht allein des Wirklichkeitssinnes, sondern auch der Achtung für die Bevölkerung verraten. Wollte man nur protokollieren, zu welchen Aussagen Fraktionen mit Pawlow’schem Reflex Applaus spenden, man müsste am Ernst dieses Parlaments zweifeln. Seiner Funktion nach darf der Abgeordnete kein Zyniker sein, schließt doch Zynismus die Zustimmung zur Zerstörung ein und enthält so eine Absage an den Humanismus, dem sich das Parlament verdankt und den es immer wieder auf den neuesten Stand bringen sollte.
Zum vollständigen Bild dieses Parlaments aber gehört es auch, dass es nicht als intakte, ganzheitliche Persönlichkeit zu sehen ist, sondern eher als ein System von Modulen, heterogenen Sensibilitäten und Kompetenzen. Deshalb ist es im selben Atemzug zur Negation der Conditio Humana ebenso in der Lage wie zur Würdigung menschlicher Leidenssituationen. Mit dem in Kroatien geborenen gelernten Kfz-Mechaniker Josip Juratović ( SPD ) verschafft sich eine solche Gehör in einer Debatte, die ohne kulturelle Sensibilität nicht führbar wäre. Es geht um die Reduzierung der psychischen Belastungen in der Arbeitswelt. Juratović repräsentiert schon allein durch seinen Akzent die große Gruppe derer, die in Deutschland nicht geboren wurden. Er erzählt von seiner Frau, einer Krankenschwester, die unter dem Druck der täglichen Arbeit gefährdet ist, selbst krank zu werden. Es handelt sich um einen Augenblick aus der wirklichen Welt, der für kurze Zeit etwas wie Mitbewegung, wenn nicht Rührung auslöst.
Der Redner verzichtet auf Polemik, eher bleibt er beim Leiden. Es ist sein unbeholfenes Reden, das die Wahrhaftigkeit desjenigen steigert, der gewissermaßen außerhalb der parlamentarischen Lager redet. Er kann leise sein, denn er spricht als Stimme seiner Frau, und das tut er einsam vor sich hin. Als er sich aufrafft, um dann doch in die Polemik zu finden, sitzt sie verrutscht im Redefluss. Dafür bekommt er endlich zwar auch Applaus, aber wahrhaftig wirkt sein schwaches Eifern nicht, eher wie ein mühseliges Hineinfinden in ein Ritual, das nicht das seine ist. Noch seine kämpferischsten Sätze werden leidend gesprochen, deshalb lösen sie keinen Zuspruch aus, und die »Antistressverordnung«, die er fordert, wirkt nicht einmal als Vokabel vertraut in seinem Mund. »Das muss besser werden«, sagt er und ist beim Abschalten des Firmenhandys nach Feierabend. Manchmal kommt die Utopie in den Raum. Dann erscheint das Wahre, Schöne und Gute, es wird beschworen mit einem hohen Aufwand an »liebe Kolleginnen und Kollegen«, und so geht es auch wieder. Der Redner nimmt Platz, wendet sich zurück, setzt die Brille ab, erntet Zustimmung. Das Gedrückte an ihm ist verflogen, er ist erleichtert.
Während jetzt Heinrich L. Kolb ( FDP ) den Schaden durch psychische Arbeitsbelastungen auf 29 Milliarden Euro für Unternehmen beziffert und irgendetwas aus dem »statistischen Krankheitsgeschehen« referiert, setzt sich der alte Saaldiener auf die hinterste Bank des Bundesratspodiums. Da sitzt er, hineingesackt in seine Weste, die grau ist unter dem schwarzen Frack, so wie auch er grau wirkt, altgedient. Er hat sein Papier sinken lassen, kratzt sich am Kopf, erhebt sich mühsam, macht seinen Weg, lässt sich vom letzten Redner das Manuskript geben, sortiert die Blätter, legt sie dem Protokollanten auf den Tisch, kehrt zu seinem Platz zurück und mustert das Geschehen.
Der »Platzmeister« ist Teil des Parlaments-Assistenzdienstes, jener vierzig Angestellten, die die Türen bewachen, den Einlass kontrollieren, Wasser bringen, putzen, Papier anreichen, Protokolle einsammeln oder Abfall entsorgen. »Am Abfall merkt man keine Unterschiede«, hörte ich einen Saaldiener sagen, und: »Zeichnungen sind ganz aus der Mode: die malen nichts mehr.« Dann steht der Veteran da unten auf, tritt nah wie ein Kurzsichtiger vor die große Anzeigetafel und liest die
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