Das Hohe Haus
Ankündigung zur »Beratung der Beschlussempfehlung«: »Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto rückwirkend ab 1997 ermöglichen.«
Das Thema erscheint innerhalb weniger Wochen zum zweiten Mal. Heute ist sogar der israelische Gesandte gekommen, um der Debatte zu folgen, die wieder diesen leisen Akkord spielt aus Schuldbewusstsein, Selbstbezichtigung, historischer Besinnung und Kapitulation vor den bürokratischen Gegebenheiten. Peter Weiß ( CDU / CSU ) erklärt dem Plenum zunächst einmal, was ein Ghetto ist. Mit Stolz sagt er dann, dass ehemaligen Ghetto-Insassen »das offenkundig bei etlichen Betroffenen vorhandene Gefühl einer subjektiven Ungerechtigkeit« genommen werden solle. Der Redner ist Didaktiker, er stellt rhetorische Fragen. Zu moralischen Auslassungen trägt er Pathos auf, es ist kostenlos. Wo es um die realen Zahlungen geht, herrscht materialistische Sachlichkeit im Ringen um »ein Stück Gerechtigkeit«. In der Tat, ein Stück.
Anton Schaaf ( SPD ) tritt mit der Überzeugungskraft dessen auf, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht und dem schon dafür alle Sympathien zufliegen. Heute ist auch er leise. In feierlichem Ton erinnert er an Otto Wels, der »vor achtzig Jahren, am 23 . März 1933 , für die damalige SPD -Reichstagsfraktion« begründete, warum diese Fraktion Hitlers Ermächtigungsgesetzen nicht zustimmte. Er macht lange Pausen, die nicht künstlich wirken, sondern der Sache geschuldet.
Das Plenum wird ruhig. Das Gesagte ist wohlerwogen, die Aufmerksamkeit ungebrochen. Wo Widerspruch ist, wird er ohne Schroffheit angemeldet. Erdrückend sind immer die Fakten. Schaaf rekapituliert sie frei. Als er das Podium verlässt, liegt ein echter Moment hinter ihm und dem Saal. Das haben alle gemerkt, auch Heinrich L. Kolb ( FDP ), der ihm sogar zu einer »großen Rede« gratuliert. Diesmal klatschen alle, vielleicht in Anerkennung der Tatsache, dass eine gute Rede zu einem gewichtigen Thema dem ganzen Hause Ehre macht.
Danach ist keine Polemik mehr möglich, alle sind plötzlich behutsamer, das Haus ist wirklich Hohes Haus, auch weil man begriffen hat, dass man in der Entschädigungsfrage Versäumnisse auf sich lud. Kolb hält diese sogar für eine der schwierigsten Fragen der Legislaturperiode. Der ganze Saal sieht sich im Widerspruch zwischen Rechtsprechung und Gerechtigkeitsgefühl. Zwei Kameramänner sind die Einzigen, die hinter der obersten Reihe der Tribüne unverhohlen miteinander reden. So machen sie die Stille nur noch fühlbarer. Plötzlich sind diese beiden Stimmen wie stellvertretend für alle, die sich immer hinwegsetzen oder kein Gefühl für den Atemstillstand im Saal haben.
Sie verpassen auch, wie Ulla Jelpke ( DIE LINKE ), die schon so lange Fragen der Aufarbeitung und Entschädigung zu ihrer Sache gemacht hat, dasteht, aus dem Zentrum ihrer Überzeugung redet, appelliert, den Saal beschämt und selbst beschämt ist. Das ist hier eine seltene Empfindung, auf die alle mit herabgesetzter Lautstärke reagieren, und stiller noch werden sie, als Wolfgang Strengmann-Kuhn ( B 90 / DIE GRÜNEN ) eine Opferstimme zitiert – »damit ist dann Schluss, mehr wollen wir nicht von Euch. Wir bitten nur darum, dass das erledigt wird« – und diese nicht deplatziert wirkt. Am Ende werden die Anträge der Linken abgelehnt, niemand enthält sich, der »rechtliche Rahmen des Rentenrechts« triumphiert.
Freitag, 22 . März, 9 Uhr
Am Abend hat Carla Bruni bei der »Echo«-Verleihung gesungen. Heute eröffnet der Staatsanwalt ein Verfahren gegen ihren Mann Nicolas Sarkozy, der eine demente Milliardärin zu Wahlkampfspenden gedrängt haben soll. »Campino hofft auf neuen Papst«, schreibt ein Online-Magazin, ein anderes moniert den »schwarz-gelben Stillstand« und fragt: »Werden wir überhaupt noch regiert?« Der »Energiegipfel« des Vortags gebar nur Floskeln. Nordkorea forciert seine Aufrüstung. In Zypern greift man zu auf die Sparguthaben der Bürger. Forschern in Maryland gelingt es erstmals, die vollständige Hirnaktivität eines Wirbeltiers auf Zellniveau zu messen. Das ZDF wird fünfzig.
»Spiegel Online« schreibt zur gestrigen Ghettorenten-Diskussion: »Fassungslos verfolgte der israelische Gesandte in Berlin, Emmanuel Nachshon, die Debatte im Bundestag. Nachdem ein Jahr über das Problem nicht gezahlter Renten an die Überlebenden der Nazi-Ghettos geredet wurde, nachdem eigentlich alle Rentenexperten auf einer Anhörung im Dezember Handlungsbedarf
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