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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Rösler sitzend betasten sich, Steinbrück trägt ein offenes Hemd. Bei den meisten Abgeordneten löst der Hammelsprung offenbar Amüsement aus. Um kurz vor 18  Uhr ist der Antrag abgelehnt, de Maizière taucht nicht wieder auf. Der Saal lehrt sich rasch, nur Steinbrück hat noch Mitglieder seines »Kompetenzteams« um sich versammelt.
    Nicht lange, und es geht um die »Unterstützung für die Opfer häuslicher Gewalt«. Die parteipolitische Ausbeutung des Themas beweist Dorothee Bär ( CDU / CSU ) durch den Satz: »Rot-Grün hat Deutschland leider Gottes zu einem Paradies für Zuhälter und Menschenhändler gemacht.« Es wäre damit schon das zweite Paradies, in dem sich der Wille zur Sünde gegen den Gottes durchsetzt. Währenddessen sitzt Franz Müntefering in einer der hinteren Reihen, akklamiert mit der flachen Hand auf dem Tisch, beobachtet genau. Auf den letzten Metern seiner parlamentarischen Laufbahn wird er zum Ideal eines Parlamentariers, der genau zuhört, auch bei Fragen der Finanzierung von Frauenhäusern, beim Votum für »eine Entschleunigung der Politik«, für »überfraktionelle Impulse«, die sich die scheidende Abgeordnete Marlene Rupprecht ( SPD ) wünscht, ehe sie anschließend von den Umarmungen verschluckt wird.
    Das Licht hat jetzt die scharfen Konturen des Abends. Parteiisch isoliert es einige Einzelne in Lichtinseln. Auf den Tribünen sitzen die Jüngsten gerne eng, die Älteren halten Abstand. Es ist 19  Uhr  40 , und Ebbe herrscht im Haus. Hier waren heute so viele, erklärten, beschworen, begehrten auf und keiften. Zwei kamen sich fast physisch in die Haare, bedrängten sich wie auf dem Fußballplatz. Es wurde viel gelobt, gedankt, bezichtigt, Kameras klickten. Einmal sah ich, wie zwei unter der Bank ihre Hände suchten. Jetzt ist der Saal wie erschlafft, wie entkernt, die Unterhaltungen wirken privat, auch die Lautstärke der Rede reicht nur noch für die ersten Reihen. »Ich bin stolz, dass ich dabei war«, sagt Marlene Mortler ( CDU / CSU ).

Freitag, 14 . Juni, 9  Uhr
    Draußen ist es wieder kühl geworden, der Sommer zögert. Heute ist das Polizeiaufgebot vor dem Abgeordneteneingang hoch, der Parkplatz schwarz vor Limousinen. Im Plenarsaal zeigen sich fast alle festlich gekleidet, die Frauen in gedeckten Farben, die Männer mit Krawatte. Die Bundesratsbank, die Tribünen sind lückenlos besetzt. Man beginnt den Tag mit dem Gedenken an den Volksaufstand vom 17 . Juni 1953 . Kristina Schröder im weißen Anzug prüft ihre Mails im Stehen, sogar während sie Kollegen begrüßt.
    Der Tross der Honoratioren trifft ein, Bundespräsident Gauck, Bundestagspräsident Lammert, Bundeskanzlerin Merkel. Drei Blumengestecke in Gelb und Violett liegen da, wo sonst die Protokollführer sitzen. Lammert geht an seinen Platz, bleibt aber stehen. Auf der Nachbartribüne haben die Vertreter der Nationen Platz genommen, darunter zahlreiche Afrikaner. Ramsauer liest eine Akte, während die meisten nur die Programmzettel vor sich haben, Bahr kommt zu spät. Lammerts Rede wird vom Applaus, selbst von den Tribünen aus, immer wieder unterbrochen. Der Saal hört zu.
    Gaucks Stimme setzt höher ein als die Lammerts. Er spricht autobiographisch. Zum ersten Mal erlebe ich die Regierungsbank im Profil, den Fakten dieser Geschichtsstunde folgend. Das Licht ist gedeckt, die Geräusche der Fotokameras hören nicht auf. Jetzt klingt die Rede Gaucks fast introvertiert. Von den »Straflagern im Ural« ist die Rede, vom »Gulag«, vom »brutal niedergeschlagenen« Widerstand. Gauck nennt Namen, die niemand kennt, zitiert Schicksale, die vergessen wurden. »Auch Deutsche können Widerstand«, sagt er modisch. Bis auf seine Stimme und die Fotoapparate ist der Saal mucksmäuschenstill. Gauck differenziert, er gibt dem, was hier »Antikommunismus« heißt, zwei Gesichter, eines des Ressentiments, eines des Leidens. Gysi stützt das Kinn in die Hand, die Ökonomie des Applauses macht es den Linken heute nicht leicht. Mal könnte man für einen Betonkopf, mal für einen Wendehals gehalten werden.
    Auch Müntefering ist da, sitzt wieder allein, konzentriert mit gefalteten Händen. Vielleicht wäre er gerne unscheinbar und wird es doch nie mehr sein. Zuletzt wird die gute Gelegenheit nicht verpasst, den 17 . Juni im Hinblick auf internationale Freiheitsbewegungen zu aktualisieren. Das »Stimme geben«, die »Verpflichtung für heute«, zur »Solidarität jetzt«, sie klingen alle an. Die abschließende Hymne wird von

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