Das Hohelied des Todes
Mrs. Bates.«
»Das ist doch selbstverständlich«, sagte sie leise. »Wenn mir noch etwas einfällt, melde ich mich bei Ihnen.«
»Das wäre schön.« Plötzlich merkte Marge, daß Decker schräg hinter ihr stand. Wie lange er schon im Zimmer war, wußte sie nicht. Aber es war gut, daß er sich nicht eingemischt hatte. Seine massige Gestalt konnte manchmal einschüchternd wirken. Marge hatte das Gefühl, daß er bei diesem Gespräch gestört hätte.
Sie sagte: »Ah, Sergeant Decker ist wieder da.«
»Na, wären wir soweit?« fragte er und kam näher.
»Ja«, sagte Marge augenzwinkernd. »Perfektes Timing.«
»Haben Sie irgendwelche brauchbaren Anhaltspunkte gefunden, Sergeant?« fragte Mrs. Bates. Decker hörte die Angst in ihrer Stimme.
»Eigentlich nicht. Es ist ein ganz normales Mädchenzimmer«, antwortete er. Dann fügte er leise hinzu: »Solche Zimmer habe ich schon oft gesehen.«
Das meiner Tochter zum Beispiel, dachte er.
Mrs. Bates stiegen Tränen in die Augen.
»Es tut mir so leid für Sie«, sagte Decker.
Sie nickte.
»Mrs. Bates«, sagte er. »Hatte Ihre Tochter vielleicht jemals Umgang mit einem tauben oder schwerhörigen Mädchen?«
Diese Frage hatte sie nicht erwartet.
»Nein. Warum wollen Sie das wissen?«
»Es könnte wichtig sein.«
»In welcher Hinsicht?«
»Das kann ich selbst noch nicht genau sagen. Aber sobald ich Näheres weiß, lasse ich es Sie wissen.«
»Jemand mit Hörgerät?« fragte sie.
»Ja.«
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie gedankenverloren. »Ich könnte Erin fragen … Wann kommt sie nach Hause? Mal überlegen, heute ist Mittwoch … oder Donnerstag? Ich glaube, Donnerstag.« Sie merkte, daß sie mit sich selbst geredet hatte, und lächelte entschuldigend.
»Außerdem würde ich gern noch mit Ihrem Mann sprechen, irgendwann, wenn es ihm recht ist«, sagte Decker. »Kann ich ihn heute abend telefonisch zu Hause erreichen und einen Termin mit ihm ausmachen?«
»Aber sicher.«
Marge klappte ihren Block zu.
»Sie halten mich doch auf dem laufenden?« fragte Mrs. Bates.
»Selbstverständlich«, antwortete Marge.
Mrs. Bates schlang die Arme um sich.
»Ich habe meine Tochter geliebt«, sagte sie. »Ich will, daß Sie den Unmenschen finden, der sie … getötet hat. Aber vielleicht können Sie verstehen, daß ich unter Umständen nicht die ganze Wahrheit wissen muß.«
Decker dachte an seine eigene Tochter.
»Das verstehe ich gut«, sagte er.
»Na, was hast du rausgekriegt?« fragte Decker. Er ließ den Motor einen Augenblick warmlaufen und setzte dann rückwärts aus der Einfahrt.
»Mom ist gerne mit ihrer Tochter einkaufen gegangen«, antwortete Marge.
»Das übliche?«
Marge nickte. »Mein Kind doch nicht! Sie wäre nie von zu Hause ausgerissen!« Sie rieb sich die Hände. »Ist die Heizung schon repariert? Ganz schön häßlicher Tag heute.«
»Nein, aber die Klimaanlage funktioniert ausgezeichnet.«
»Ist ja toll. Warum machen wir es uns nicht drinnen schön kalt, damit es uns draußen wärmer vorkommt?«
Decker lachte. »Du siehst schon wieder etwas besser aus.«
»Wenn du mit Leuten redest, die wirkliche Probleme haben, fühlst du dich plötzlich nicht mehr so krank«, sagte sie. »Was hast du in Lindseys Zimmer gefunden?«
Decker sagte: »Ein durchschnittliches, nettes Mädchen. Ein bißchen oberflächlich, aber nicht rebellisch. An Platten hat sie nur die normalen Top-40-Sachen, kein Heavy Metal, keinen Punk. Gekleidet hat sie sich ziemlich gewagt, aber ganz bestimmt nicht punkig. Sie hat sehr auf ihre Fingernägel geachtet. Ich habe mindestens sechs Maniküretuis gefunden.«
Er bog auf den Freeway ein und trat das Gaspedal durch. Der Motor kreischte auf, und der Wagen schoß vorwärts.
»Gelesen hat die Kleine überhaupt nichts. Auf den Regalen hat sie nur Krimskrams und Stofftiere stehen. Nicht ein einziges Buch.«
»Poster?« fragte Marge.
»Rockstars und Topmodels aus New York. Ein paar gerahmte Sinnsprüche – ›Liebe überwindet alles‹, ›Gold ist der Schatz der Könige, Liebe ist der Schatz des Lebens‹. Lauter solches Zeug.«
»Ein nettes Mädchen«, sagte Marge.
»Ein nettes Mädchen«, sagte Decker.
»Fotos von Freunden?«
»Habe keine gesehen. Ich habe überhaupt keine Schnappschüsse in ihrem Zimmer gefunden. Wahrscheinlich werden die Familienalben woanders aufbewahrt.«
»Du hast nicht zufälligerweise ein Tagebuch entdeckt?«
Decker schüttelte den Kopf. »Hatte sie eins?«
»Das sagt
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