Das Hohelied des Todes
biß die Zähne zusammen.
»Scheiße! Na, dann, prost Mahlzeit. Mom hat mich nämlich danach gefragt, und ich habe sie angelogen. Aber ich hatte altruistische Motive dafür.«
»Inwiefern?«
»Ich wußte doch, was da drinstand – alles über Lindsey und Chris. Sie hat mir nämlich ein paar Stellen vorgelesen – die Sexszenen. Es war ziemlich drastisch. Ich wollte nicht, daß Mom auf Lindsey böse wird, verstehen Sie? Weil sie wirklich eine nette Schwester war. Und dann habe ich ja auch gedacht, daß Lindsey wieder zurückkommt. Mom sollte auf sie nicht auch noch böse sein. Außerdem sollte Lindsey nicht denken, daß ich eine Schnüfflerin und eine Petze bin, ich wollte sie nicht enttäuschen. Scheiße, ich kann nicht glauben, daß sie wirklich … nicht mehr da ist. Ich denke immer noch, sie ist im Sommerlager und kann jeden Tag nach Hause kommen.«
Sie schniefte.
»Aber sie kommt nicht mehr wieder, nein?«
Decker schüttelte den Kopf.
Sie schleuderte die Zigarettenschachtel quer durch das Zimmer.
»Furchtbar«, flüsterte sie.
»Es tut mir leid.«
»Was haben Sie mit dem Tagebuch vor?« fragte sie.
»Wir hoffen, daß es uns bei den Ermittlungen weiterhilft.«
»Bestimmt nicht. Ich weiß, was drinsteht. Nur jede Menge sehr persönliche Sachen.«
»Manchmal kann sich auch eine Kleinigkeit als sehr wichtig erweisen.«
Das Mädchen ging zum Regal, entfernte von einem ihrer Bücher einen falschen Rücken und hielt ein rosafarbenes, in Vinyl gebundenes Taschenbuch mit Goldprägung in der Hand.
»Da«, sagte sie und reichte es Decker. »Sie hat ein paar Gemeinheiten über Mom, Dad und mich reingeschrieben. Aber im Grunde war sie überhaupt nicht so. Das hat sie nur aus Wut geschrieben, und ich habe ihr verziehen. Ich meine ja bloß, ich bin wahrhaftig keine Schönheit, aber eine Pennerin bin ich deswegen noch lange nicht.« Sie sah Decker hilfesuchend an.
»Du bist ein sehr hübscher Teenager«, sagte er ruhig.
Sie wurde rot. »Nein, im Ernst … wie finden Sie mich wirklich?«
»Ich finde, daß du ein sehr hübscher Teenager bist«, wiederholte er.
»Mom hackt immer auf mir rum, ich soll mehr aus mir machen. Genau wie Lindsey. Lindsey hatte viel mehr für Äußerlichkeiten übrig als ich.« Das Mädchen wurde ernst. »Und sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut, sie bestand nicht nur aus ein paar persönlichen Gedanken auf einem Stück Papier. Denken Sie daran, wenn Sie es lesen, Sergeant«, sagte sie und klopfte mit dem Finger auf das Tagebuch.
»Bestimmt, Erin.«
»Sie wird mir fehlen«, sagte Erin zu sich selbst. Nun flossen doch noch Tränen. »Ach Gott, ich vermisse sie jetzt schon so sehr.«
Sie warfen eine Münze. Decker mußte fahren, Marge konnte sich in das Tagebuch vertiefen. Nachdem sie zehn Minuten darin gelesen hatte, mußte sie laut kichern.
»Die Kleine hatte Humor«, sagte sie. »Hör dir die Stelle mal an. Das hat sie vor ungefähr einem Jahr geschrieben. ›Gestern abend haben wir uns wieder geliebt.‹ Sie meint Chris. ›Ich habe mich etwas getraut, was ich noch nie gemacht habe. Ich habe dabei die Augen aufgemacht und ihn beobachtet. Er sah aus, als ob er jeden Moment niesen müßte, aber es kam nichts, also denke ich mir, daß er dabei wohl eben immer so ein Gesicht macht. Ich schlafe gern mit ihm, es ist schön, Chris so nahe zu sein, aber gestern abend hätte ich ihm am liebsten die ganze Zeit ein Taschentuch angeboten. Ich glaube, von jetzt an lasse ich die Augen lieber zu.‹«
Decker lächelte traurig. Marge war die Melancholie in seinen Augen nicht entgangen.
»Mir ist dabei richtig unheimlich zumute«, sagte sie, während sie weiterblätterte.
»Wenigstens vertreten wir Wahrheit und Gerechtigkeit.«
»Den American way of life nicht zu vergessen.«
Der Plymouth bog auf den Freeway 210 ein, die wichtigste Verkehrsader, die die taschentuchgroßen Foothillgemeinden mit den Auswüchsen der Großstadt verband. Die Dämmerung hüllte die Berge ein und milderte ihre scharfen Kanten. Marge nahm eine Taschenlampe, um in der einbrechenden Dunkelheit besser lesen zu können.
»Kommen außer Chris noch andere Jungen vor?« fragte Decker.
»Fehlanzeige. Bis jetzt jedenfalls noch nicht.« Die nächsten Seiten las sie leise. »Lindsey war verrückt nach Chris. Eine einzige Schwärmerei. Die große Liebe.«
»Kriegst du einen Eindruck von ihm?«
»Er hatte Spaß am Sex.«
»Dreht sich in dem Tagebuch alles um Sex?«
»Nein, nein, bei weitem nicht. Das meiste ist ganz
Weitere Kostenlose Bücher