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Das Hohelied des Todes

Das Hohelied des Todes

Titel: Das Hohelied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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Mitte gescheitelt hatte, hingen glatt herab. Sie trug Jeans und Sweatshirt und hatte eine Holzperlenkette um den Hals. Barfuß hockte sie im Schneidersitz auf dem Bett und spielte gedankenverloren mit ihren Haaren. Unter den Armen hatte sie kleine, feuchte Kreise, die das Sweatshirt dunkel färbten, und ihr Atem ging schnell.
    Marge machte sich in der hintersten Ecke des Zimmers klein und tat so, als wäre sie mit etwas anderem beschäftigt. Decker zog sich den Schreibtischstuhl ans Bett, setzte sich Erin gegenüber rittlings darauf und stützte die Ellenbogen auf die Rückenlehne. Dann blickte er sich unauffällig im Zimmer um.
    Die beiden Schwestern waren grundverschieden. Während Lindseys Zimmer ausschließlich Angepaßtheit ausgestrahlt hatte, war in Erins kleinem Reich Rebellion zu spüren. Seite an Seite mit Zitaten von Thomas Jefferson, Aristoteles, Thomas Mann und Nietzsche hingen Anti-Atomkraftposter an den Wänden. Ein erotischer Aubrey Beardsley – eine Federzeichnung mit Tusche – war mit Heftzwecken an die Kleiderschranktür gepinnt. Auf den Bücherregalen drängten sich Taschenbücher über philosophische, künstlerische und sozialwissenschaftliche Themen. Eine Orgelfuge von Bach dröhnte aus dem CD-Gerät.
    »Könnten wir vielleicht die Musik etwas leiser stellen?« rief Marge.
    »Bitte schön«, antwortete Erin.
    »Ich möchte die Anlage nicht anfassen«, sagte Marge.
    Erin sprang auf und drehte die Musik aus. Es wurde leise im Zimmer. Sie setzte sich wieder auf das Bett und holte eine Schachtel Zigaretten heraus.
    »Stört es Sie, wenn ich rauche?« fragte sie.
    »Wenn es deiner Mom nichts ausmacht, soll es mir recht sein«, sagte Decker.
    Sie zupfte sich eine Benson and Hedges aus der Packung.
    »Eigentlich sollte ich nicht rauchen«, sagte sie, während sie sich die Zigarette anzündete. »Eine eklige Angewohnheit.« Sie inhalierte tief. »Raucherbein, ich komme. Aber wir haben wohl alle unsere Laster. Immer noch besser als Alkohol oder harte Drogen, finde ich. Ach was, seien wir ehrlich. Nikotin ist auch eine Droge.«
    Sie versuchte zu lächeln, aber es mißlang.
    »Bist du nervös, Erin?« fragte Decker.
    Sie zuckte mit den Achseln.
    »Von mir aus kann’s losgehen«, sagte sie.
    »Wir zwei müssen ganz von vorn anfangen, Erin«, sagte Decker. »Weil die Polizei von Glendale damals deine Eltern befragt hat, konnte ich mir in etwa ein Bild von ihnen machen. Aber über dich weiß ich noch gar nichts.«
    »Da gibt’s nicht viel zu wissen«, sagte sie.
    »Na, zum Beispiel hast du doch wohl einen ziemlich anspruchsvollen literarischen Geschmack.«
    »Man gibt sich Mühe«, sagte sie verlegen, gleichzeitig aber auch erfreut über das Kompliment.
    »Du interessierst dich für Philosophie?«
    »Nur so nebenher. Ich habe eher eine Vorliebe für Wirtschaftswissenschaften.« Sie kicherte. »Da steckt mehr Geld drin.«
    »Leuchtet mir ein«, sagte Decker, ohne eine Miene zu verziehen.
    Erin lächelte, dann senkte sie kokett den Kopf. Die Bewegung ließ ihr Gesicht weicher wirken. Sie warf erst einen Blick auf Marge, dann auf Decker und wurde wieder ernst.
    »Lindsey und ich waren uns nicht sehr ähnlich«, sagte sie schließlich.
    Decker nickte.
    »Wir haben verschiedene Sprachen gesprochen. Ich meine, wir haben uns zwar auf englisch unterhalten, aber oft war es schwierig, eine Kommunikation zwischen uns herzustellen. Ich habe meine Schwester gern gehabt, aber unsere Interessen waren diametral entgegengesetzt … Drücke ich mich verständlich aus?«
    »Ja«, antwortete Decker.
    Sie sah erneut Marge an, dann flüsterte sie Decker zu: »Sie war das Kind meiner Mutter, ihr Liebling. Wenn Sie meine Mutter verstehen, verstehen Sie auch Lindsey. Nur …«
    Ihr Blick glitt zu Marge hinüber, dann zurück zu Decker.
    »Nur …« sagte sie. »Nur ist meine Mutter ein ziemlicher Drachen, und Lindsey war Mutter Erde in Person. Meine Schwester war zu jedem nett, sogar zu richtigen Kotzbrocken, die man am besten durchs Klo gespült hätte.«
    »Sie scheint tatsächlich überall beliebt gewesen zu sein.«
    »Zu mir war sie immer furchtbar nett«, sagte Erin mit Tränen in den Augen. »Und ich bin nicht gerade ein braves Lamm. Sie war sehr stolz auf mein kluges Köpfchen, müssen Sie wissen. Sie selbst war nicht besonders helle, aber sie war nie, niemals neidisch auf meine Erfolge. Und noch etwas. Den meisten älteren Schwestern wäre es peinlich, ihre kleine Schwester um Hilfe zu bitten. Aber Lindsey hat sich nicht

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