Das Hohelied des Todes
großen Klecks Apfelmus, ein Löffel Rot- und Weißkohlsalat und ein Stück Challa. Daneben wartete noch ein Teller mit Tscholent – ein Eintopfgericht aus Bohnen und Rindfleisch mit gefüllten Derma. Ein Kristallkelch mit Eiswasser stand neben einem dazu passenden Weinglas, das bis zum Rand mit halbtrockenem Rosé gefüllt war.
Aber Deckers Magen rebellierte.
Zum Teil lag es daran, daß er Fieber hatte. Er hätte sich gestern doch noch die Zeit für den Arzt nehmen müssen. Er hatte kein Penizillin mehr, und die Infektion kroch ihm langsam wieder in den Körper. Aber in erster Linie lag es an Rina. Sie saß ihm gegenüber, und er hatte noch nie im Leben eine so vollkommene Erscheinung gesehen. Am Schabbat sah sie zwar immer bezaubernd aus, aber nicht so schön wie heute. Decker war überwältigt. Die Haare trug sie zu einem strengen Knoten gebunden, was ihre hinreißenden Züge unterstrich. Die zwei goldenen Federn, die ihre Ohrläppchen schmückten, strichen ihr über die sahnigweißen Wangen, wenn sie den Kopf bewegte. Ihre himmelblauen Augen wirkten tiefer und geheimnisvoller als sonst, die Lippen waren voll und rot. Sie war sittsam gekleidet – lange Ärmel und ein die Waden umspielender Rocksaum –, aber der runde Halsausschnitt ihrer Bluse entblößte den anmutigen Bogen ihrer Kehle und die feine Struktur darunter. Er wagte es nicht, ihren Blick zu suchen, weil die anderen am Tisch sonst sofort gewußt hätten, wie es um ihn stand.
Decker griff nach seinem Messer und schnitt sich das Fleisch in kleine Häppchen, weil er wußte, daß es unhöflich gewesen wäre, so viel Essen übrig zu lassen. Er schob sich einen Bissen in den Mund und begann mit Mühe zu kauen.
Rabbi Marcus hielt den Dwar Tora. Heute war es ein Diskurs über die Bibelstelle der Woche. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte und einen schwarzen Hut. Unter dem Hemd schauten die Zizit-Fäden hervor. Die übrigen verheirateten Männer am Tisch waren genauso gekleidet wie er; alle hatten Vollbärte.
Decker strich über seinen Schnurrbart und fuhr sich verlegen über das glatt rasierte Kinn. Der fehlende Vollbart war nicht das einzige, wodurch er sich von den anderen unterschied. Auch seine Haarfarbe hob ihn aus dem Meer von Dunkelhaarigen heraus, und sein marineblauer Anzug hätte eher zu einem Geschäftsmann als zu einem Rabbiner gepaßt. Sogar von den drei unverheirateten Jeschiwa-Schülern mit ihren großen, schwarzen Samtkappen unterschied er sich durch seine kleine, gestrickte Kippa.
Die Kleidung der Frauen war abwechslungsreicher als die der Männer. Sie waren nicht geschminkt, aber dafür funkelte ihr Schmuck.
Marcus begann mit seinen lebhaften Ausführungen, und seine ernsten Augen leuchteten, als er seine Meinung darlegte. Decker bemühte sich, ihm konzentriert zuzuhören, aber das Gemisch aus Englisch und Hebräisch verwirrte ihn, und der rechte Arm tat ihm weh. Die Schmerzen wurden noch schlimmer, als er merkte, daß Marcus’ Frau Chana ihn mit spitzen, eisigen Blicken musterte. Sie war die übelste Schnüfflerin, die er je kennengelernt hatte, und er konnte sie auf den Tod nicht ausstehen. Wie ein selbsternannter Wachhund beobachtete sie abwechselnd Rina und ihn und paßte auf, daß sich auch ja nichts Unziemliches zwischen ihnen abspielte.
Decker hatte inzwischen die Hälfte des Roastbeefs geschafft. Das Fleisch schmeckte köstlich, aber es lag ihm wie ein Stein im Magen. Als er Rina einen verstohlenen Blick zuwarf, sah sie ihn fragend an. Er wußte, was sie dachte. Alles in Ordnung mit dir, Peter?
Nachdem Marcus seine Predigt beendet hatte, widmete sich Decker wieder ganz dem Essen. Er schnitt sich langsam noch ein Stück Fleisch ab und konnte plötzlich das Messer nicht mehr halten. Er hatte einen Krampf im Arm. Als er den Bissen mit der Gabel aufspießte, merkte er, daß ihm der Schweiß in Strömen über die Stirn lief. Er wischte ihn sich schnell ab und schob seinen Teller weg. Chana bemerkte es, doch ansonsten fiel es niemandem auf, weil genau in diesem Augenblick die Kinder, die in der Küche an ihrem eigenen Tisch gegessen hatten, ins Eßzimmer kamen.
Rinas Jungen setzten sich rechts und links neben ihn, und am Tisch wurden Semiros – Sabbat-Gesänge – angestimmt. Sarah Libba Adler stand auf und fing an den Tisch abzuräumen, Rina, Chana und die älteren Mädchen halfen ihr dabei. Decker spürte, daß Rina genau hinter ihm stand und sah ihre Hand nach seinem Teller
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