Das Hohelied des Todes
Schmerz, aufbrechende Haut, spritzender Eiter, der das ganze Zimmer mit fauligem Gestank verpestete.
»Gut«, hörte er sie sagen.
Er war einer Ohnmacht nahe, aber sein männlicher Stolz hielt ihn bei Bewußtsein.
Sie reinigte die Wunde mit einem Antiseptikum. Die Schmerzen waren so unerträglich, daß er zitterte. Behutsam wischte sie ihm das Gesicht ab, und schließlich tupfte sie die Wunde trocken.
»Sieht sauber aus, Peter. Drück das Handtuch schön fest auf den Schnitt; ich schau nur schnell, was ich in der Hausapotheke habe.«
Sie kam mit zwei halbleeren Tablettenröhrchen und einer Rolle Verbandsmull zurück.
»Die Penizillintabletten sind noch von meiner Halsentzündung. Du mußt alle sechs Stunden zwei nehmen. Und nimm auch ein paar Aspirin. Danach fühlst du dich besser, sie helfen auch gegen die Schwellung und das Fieber.«
Sie fing an, ihm den Arm zu verbinden.
»Ich liebe dich«, sagte Decker.
»Ich liebe dich auch, Peter. Versprich mir, daß du zum Arzt gehst, sobald der Schabbat vorbei ist.«
»Versprochen.«
»Möchtest du dich noch ein bißchen ausruhen?«
»Nein. Das würde einen schlechten Eindruck machen.«
»Ist mir doch egal.«
»Aber mir nicht. Du verbindest mich jetzt noch, und dann gehst du zum Unterricht. Die anderen werden sich schon wundern, wo du abgeblieben bist.«
Sie nickte. Als sie fertig war, half sie ihm in die Jacke.
»Geh du zuerst«, sagte sie. »Ich will noch aufräumen.«
Er sah auf die mit Blut und Eiter bespritzte weiße Tischwäsche und runzelte die Stirn. Der penetrante Verwesungsgeruch hing immer noch im Raum.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte sie ruhig. »Aber mir wäre wirklich wohler, wenn du dich doch noch behandeln lassen würdest.«
»Es geht schon wieder.« Er nahm sie so fest in den Arm, wie er konnte. »Ich fühle mich schon viel besser. Danke.«
»Peter, wie ist das passiert?«
»Das möchte ich dir lieber nicht erzählen, Schatz.«
»Okay«, antwortete sie. »Ich halte mich raus.«
»Du mischst dich doch gar nicht ein. So sollte es sich wirklich nicht anhören. Ich will nur nicht darüber reden.«
Sie küßte ihn auf die Wange. »Mach, daß du wegkommst.«
Er gab ihr ebenfalls einen Kuß und ging, ohne noch ein Wort zu sagen. Draußen atmete er tief durch. Obwohl er noch etwas wackelig auf den Beinen war, kam er gut voran. Da er nicht die Absicht hatte, eine Lernstunde abzusitzen, von der er sowieso nichts verstand, steuerte er im Jeschiwa-Hauptgebäude einen kleinen Klassenraum im Keller an. Hier lernte er am liebsten, und hier hatte er auch seine englischen Übersetzungen der heiligen Schriften versteckt. Er holte den Chumasch heraus und versuchte, sich auf den Text statt auf seine Schmerzen zu konzentrieren.
Schon bald war er ganz in den Stoff vertieft. Er überprüfte Anmerkungen, schlug Quellen nach und strengte sich an, das Hebräische, das sich ihm immer noch verschloß, zu übersetzen und zu verstehen.
Er hatte das Gefühl, erst wenige Minuten über den Büchern gesessen zu haben, als er plötzlich blinzeln mußte. Die Dämmerung hatte das Tageslicht verdrängt, und schon bald würde es in dem unbeleuchteten Raum stockdunkel sein. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und atmete tief ein. Er genoß die Einsamkeit und Ruhe. Seinem Arm ging es schon viel besser, Rina hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet. Sie überraschte ihn immer wieder aufs neue – so durch und durch feminin, dabei gleichzeitig zupackend. Er hatte aus nächster Nähe miterleben dürfen, wie sie eine Krise meisterte, und ihre Stärke und Willenskraft waren ihm ein wenig unheimlich. Vielleicht lag es an der Religion. Die Frauen der Bibel waren schließlich auch nicht gerade für ihre Passivität berühmt – Judith, die Holofernes den Kopf abschlug, Yael, die Sisra einen Zeltpflock durch die Schläfe trieb. So etwas hätte er Rina ebenfalls zugetraut. Immerhin hatte sie sich eine Waffe gekauft.
Als er Schritte hörte, drehte er sich um und sah Rabbi Schulman in seinem seidenen Schabbatanzug. Decker wollte aufstehen, aber der alte Mann bedeutete ihm sitzen zu bleiben.
»Was macht Ihr Arm?« fragte Schulman.
»Sie hat es Ihnen erzählt?«
»Sie hätten ins Krankenhaus fahren sollen. Um des Schabbat willen darf man kein Menschenleben gefährden.« Er setzte sich. »Piku’ach-Nefesch – Ihr Leben ist wichtiger. Halachisch gesehen, hätten Sie sich behandeln lassen müssen.«
»Darf ich Sie etwas fragen, Rabbi Schulman? Was hätten Sie an meiner Stelle
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