Das Hotel (German Edition)
Nippel gesehen, dunkelrot und angeschwollen. Sie erschienen mir krankhaft, abstoßend. Ich konnte, oder wollte, einfach nicht begreifen, was da vor sich ging. Ich drehte mich um und rannte davon, so schnell ich konnte. In meinem Zimmer zog ich mir die Decke über den Kopf und wäre am liebsten nie wieder aufgetaucht. Aber zum Abendessen musste ich natürlich nach unten. Da saß mein Vater an seinem Platz, wie immer unnahbar und furchteinflößend, und sagte lediglich: ‹Wieso kommst du zu spät?› Kein Wort, keine Andeutung über die Szene in der Garage.
Die erste Zeit fürchtete ich mich davor, dass er mich zu sich zitieren würde. Ich malte mir verschiedene Möglichkeiten aus. Würde er mir drohen? Sich versuchen zu rechtfertigen? Mein Schweigen zu erkaufen versuchen? Nichts geschah. Er benahm sich, als sei tatsächlich nicht das Geringste vorgefallen. Mit keiner Andeutung ging er darauf ein. Sie werden es vermutlich nicht verstehen: Aber nach einiger Zeit hielt ich meine Beobachtung selber für eine Art Einbildung. Ich wurde unsicher, ob ich wirklich das gesehen hatte, was ich zu sehen geglaubt hatte. Es konnte doch nicht sein, dass alles so normal weiterging, wenn ich wirklich meinen Vater und Waltraud …»
Heinemann versank für einige Augenblicke in seinen Erinnerungen. Veronika schwieg und wartete geduldig, dass er weitersprach.
«Dann wurde Willi geboren, und mit meiner Mutter wurde es immer schlimmer. Sie stand gar nicht mehr auf. Ich gewöhnte mir an, ihr aus dem Weg zu gehen. Waltraud hatte nichts dagegen, wenn ich bei ihnen aß, und so war ich bald kaum noch zu Hause. Zu der Zeit unternahm mein Vater fast ständig Geschäftsreisen, war also selten da. Deswegen war es auch die Zugehfrau, die meine Mutter fand.»
«Ein Unfall?»
«Nein, das war beim besten Willen nicht als Unfall zu deklarieren», erwiderte Heinemann, und seine Stimme klang gepresst. «Sie war erwürgt worden.»
Schockiert schnappte Veronika nach Luft. Damit hatte sie nicht gerechnet.
«Der Täter hatte keinerlei Spuren hinterlassen, deswegen glaubte die Polizei, dass er sich sehr gut ausgekannt haben musste. Als mein Vater nach Hause kam, wurde er sofort befragt. Aber er hatte ein Alibi. Das überraschte mich, denn ich hatte nachts zuvor heftige Streitereien aus dem Schlafzimmer meiner Mutter gehört. Ich war also davon ausgegangen, dass er es war, den meine Mutter angeschrien hatte.»
«Sie haben doch nicht Ihren Vater für den Mörder gehalten?», warf Veronika ein.
«Was hätten Sie gedacht? Ich wusste, beziehungsweise glaubte zu wissen, dass meine Eltern sich furchtbar gestritten hatten. Am nächsten Tag war meine Mutter tot. Es war naheliegend, zu denken, er hätte sie im Streit erwürgt.»
«Haben Sie der Polizei davon erzählt?»
«Nein», gestand Heinemann. «Ich traute den fremden Männern nicht. Ich war vollkommen verunsichert, wusste nicht ein noch aus. Also tat ich das, was ich die ganzen Jahre über getan hatte: Ich lief auf mein Zimmer und bemühte mich, nichts von alldem um mich herum mitzubekommen. Vielleicht würde es sich ja als böser Traum herausstellen, ich würde aufwachen und alles wäre wieder wie vorher. Ich muss dann eingeschlafen sein, denn ich weiß noch, dass ich davon aufwachte, dass ich den schweren Motor des Wagens hörte. Vom Fenster aus sah ich in der Dämmerung gerade noch die Rücklichter um die Straßenecke verschwinden.
Als ich hinunterging, war niemand da. Natürlich, mein Vater war ja gerade weggefahren. Also beschloss ich, zu Waltraud hinüberzugehen. Irgendwie hatte ich Angst vor der Stille in unserem Haus. Drüben waren zwar alle Lichter eingeschaltet, aber von Waltraud keine Spur. Ich rief nach ihr – keine Antwort. Ich beschloss also zu warten und schlief dabei ein.»
«Und dann?»
«Ich wurde von einem sehr netten jungen Streifenpolizisten geweckt. Er hat sich große Mühe gegeben, mir die Sache schonend beizubringen …»
Veronika wartete ungeduldig darauf, dass Heinemann weitererzählte. Er kämpfte sichtlich mit den Eindrücken und Bildern von damals. Schließlich fuhr er fort: «Der Wagen war mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Brückenpfeiler geprallt», sagte Heinemann tonlos. «Alle drei waren auf der Stelle tot.»
«Kam heraus, wer Ihre Mutter …» Veronika stockte, schreckte davor zurück, das Wort «ermordet» auszusprechen.
«Nicht genau. Aber man vermutete schon damals ein Beziehungsdrama, wie es so schön heißt. Hannes hat wohl als Einziger nicht
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