Das Hotel New Hampshire
ihm das wünschen möchte; so wie ich Egg kannte, war er während des ganzen Fluges hellwach und sah zu, wie Kummer auf seinen Knien durchgeschüttelt wurde. Egg hatte den Fensterplatz, keine Frage.
Was immer da passierte, so sagte man uns, passierte jedenfalls sehr schnell; aber sicher war noch Zeit, Anweisungen durchzugeben - in irgendeiner Sprache. Und Zeit für Mutter, Egg zu küssen und an sich zu drücken; Zeit für Egg, zu fragen: »Was?«
Und wenn wir auch in die Stadt Freuds zogen, so muß ich doch sagen, daß Träume gewaltig überschätzt werden: mein Traum von Mutters Tod war ungenau, und ich träumte nie wieder davon. Mit viel Phantasie könnte man sagen, ihr Tod sei von dem Mann in der weißen Smokingjacke eingeleitet worden, aber da war keine hübsche weiße Schaluppe, mit der sie aufs Meer hinausfuhr. Sie schoß vom Himmel zum Grund des Meeres, zusammen mit ihrem schreienden Sohn und Kummer in dessen Armen.
Es war natürlich Kummer, den die Suchflugzeuge entdeckten. Als sie nach dem gesunkenen Wrack Ausschau hielten und auf der Oberfläche des grauen Morgenmeeres erste Trümmer zu entdecken versuchten, sah jemand einen Hund im Wasser schwimmen. Eine genauere Überprüfung überzeugte die Bergungsmannschaft, daß der Hund zu den Opfern gehörte; es gab keine Überlebenden, und woher hätte die Bergungsmannschaft wissen sollen, daß dieser Hund bereits tot gewesen war? Als bekanntwurde, was die Bergungsmannschaft zu den Leichen führte, war das für den überlebenden Teil meiner Familie keine Überraschung. Über diese Eigenschaft Kummers hatte uns Frank schon vorher aufgeklärt: Kummer schwimmt obenauf.
Es war Franny, die später sagte, wir müßten alle aufpassen, in welcher Gestalt Kummer beim nächsten Mal erscheinen würde; wir müßten lernen, die verschiedenen Posen zu erkennen.
Frank schwieg und grübelte über die Zuständigkeit für Wiederauferstehungen nach - für ihn schon immer eine Quelle unerklärlicher Rätsel, und nun eine Quelle des Schmerzes.
Vater mußte die Leichen identifizieren; er ließ uns in Freuds Obhut und fuhr mit der Bahn. Später sprach er nur selten von Mutter und Egg; er war keiner, der zurückblickte, und zweifellos hielt ihn die Notwendigkeit, sich um uns zu kümmern, von dieser gefährlichen Rückbesinnung ab. Zweifellos wäre ihm sonst die Idee gekommen, daß Freud das gemeint hatte, als er Mutter bat, meinem Vater zu verzeihen.
Lilly weinte, hatte sie doch die ganze Zeit schon gewußt, daß Fritzens Nummer kleiner und das Zusammenleben mit ihnen ganz allgemein leichter gewesen wäre.
Und ich? Ohne Egg und Mutter - und mit Kummer in einer unbekannten Pose oder Verkleidung - war mir klar, daß wir angekommen waren: in der Fremde.
8.
Kummer obenauf
Ronda Ray, deren Atem mich erstmals über eine Sprechanlage verführte - deren warme, starke, schwere Hände ich in meinem Schlaf (gelegentlich) immer noch spüren kann -, sollte das erste Hotel New Hampshire nie verlassen. Sie blieb bei Fritzens Nummer und diente ihnen treu - und vielleicht entdeckte sie mit den Jahren, daß die Aufgabe, Zwerge zu bedienen und Zwergenbetten zu machen, angenehmer war als jene Dienstleistungen, die sie einst für größer gewachsene Menschen erbracht hatte. Eines Tages schrieb uns dann Fritz, daß Ronda Ray gestorben war - »im Schlaf«. Nachdem wir Mutter und Egg verloren hatten, fand ich den Tod eines Menschen nie mehr »passend«, auch wenn Franny Rondas Tod so bezeichnete.
Er war allerdings eher passend als Max Uricks unglückseliges Ende: er beschloß sein Leben in einer Badewanne im zweiten Stock des Hotels New Hampshire. Vielleicht verwand Max nie seinen Ärger darüber, daß er die kleinere Badezimmereinrichtung und sein geliebtes Versteck im dritten Stock aufgeben mußte, denn ich kann mir gut vorstellen, wie ihn das Gefühl quälte, Zwerge über sich zu haben - von den Geräuschen ganz zu schweigen. Ich habe mir immer gedacht, daß dieselbe Badewanne, in der Egg einst Kummer verstecken wollte, Max schließlich erledigte - nachdem es beinahe schon bei Bitty Tuck geklappt hatte. Fritz sagte nie genau, welche Wanne es war, nur daß es im zweiten Stock passierte; Max hatte anscheinend beim Baden der Schlag getroffen - und danach war er ertrunken. Daß ein alter Seemann, der so oft von der See heimgekehrt war, in einer Badewanne enden mußte, schmerzte die arme Mrs. Urick sehr; sie fand Max' Abgang ganz und gar anpassend.
»Vierhundertvierundsechzig«, sagte Franny jedesmal,
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