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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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bergab rollen können. Oder kennst du etwas, was bergauf rollt? Was die Abwärtsbewegung auslöst, ist nebensächlich«, sagte Frank mit seiner irritierenden Lässigkeit.
    »Betrachte es einmal von dieser Seite«, dozierte Frank. »Warum scheint es ein halbes Menschenleben zu dauern, bis du auch nur ein mickriger Teenager bist? Warum dauert die Kindheit ewig - wenn du ein Kind bist? Warum scheint sie drei Viertel der ganzen Reise zu beanspruchen? Und wenn sie vorbei ist, wenn Kinder erwachsen werden, wenn du plötzlich den Tatsachen ins Auge blicken mußt ... nun«, sagte Frank erst kürzlich zu mir, »du kennst ja die Geschichte. Als wir noch in diesem ersten Hotel New Hampshire lebten, kam es uns so vor, als würden wir ewig dreizehn und vierzehn und fünfzehn sein. Bis in die verfickte Ewigkeit, wie Franny immer sagte. Doch sobald wir aus dem ersten Hotel New Hampshire draußen waren«, sagte Frank, »lief der Rest unseres Lebens doppelt so schnell an uns vorbei. So ist das nun mal«, sagte Frank selbstgefällig. »Dein halbes Leben lang bist du fünfzehn. Dann fangen eines Tages deine Zwanziger an, und schon am nächsten Tag sind sie vorbei. Und deine Dreißiger fliegen an dir vorbei wie ein in angenehmer Gesellschaft verbrachtes Wochenende. Und bevor du richtig zu dir kommst, träumst du davon, wieder fünfzehn zu sein.
    Bergab?« sagte Frank. »Es geht lange bergauf - bis zu dem Zeitpunkt in deinem Leben, wo du vierzehn, fünfzehn, sechzehn bist. Und von da an«, sagte Frank, »geht es natürlich nur noch bergab. Und jeder weiß, bergab geht es schneller als bergauf. Erst geht's aufwärts - bis vierzehn, fünfzehn, sechzehn - und dann geht's abwärts. Abwärts wie das Wasser«, sagte Frank, »abwärts wie Sand«, fügte er hinzu.
    Frank war siebzehn, als er die Pornographie für uns übersetzte; Franny war sechzehn, ich war fünfzehn. Lilly war mit ihren elf Jahren fürs Zuhören noch nicht alt genug.
    Aber sie bestand darauf: wenn sie alt genug sei, um sich von Fehlgeburt Der große Gatsby vorlesen zu lassen, dann sei sie auch alt genug, um Frank zuzuhören, wenn er Ernst übersetzte. (Kreisch-Annie ließ in ihrer typischen Heuchelei nicht zu, daß ihre Tochter, die Dunkle Inge, auch nur ein Wort davon zu hören bekam.)
    »Ernst« hieß er natürlich nur im Gasthaus Freud. In der Pornographie lief er unter vielen verschiedenen Namen. Ich mag die Pornographie nicht beschreiben. Susie der Bär erzählte uns, daß Ernst an der Universität eine Vorlesung über ›Die Geschichte der Erotik im Spiegel der Literatur‹ hielt, aber Ernsts Pornographie war nicht erotisch. Fehlgeburt hatte Ernsts Vorlesung über die erotische Literatur besucht, und selbst sie gab zu, daß Ernsts eigene Arbeit keine Ähnlichkeit mit der echt erotischen Literatur hatte, die nie pornographisch ist.
    Von Ernsts Pornographie bekamen wir Kopfschmerzen und eine trockene Kehle. Frank sagte manchmal, er bekomme beim Lesen sogar trockene Augen; Lilly hörte nach dem erstenmal nie wieder zu; und mich fror, wenn ich in Franks Zimmer saß, neben der toten Schneiderpuppe, die, wie eine mit ihrem Urteil seltsam zurückhaltende Schullehrerin, Franks Vortrag mithörte - die Kälte kroch von unten an mir hoch. Ich spürte, wie mir etwas Kaltes die Hosenbeine hinaufkroch, durch den zugigen alten Boden, durch die Grundmauern des Gebäudes, aus der lichtlosen Erde - wo ich in meiner Vorstellung die Knochen aus dem alten Vindobona liegen sah, und Folterinstrumente, wie die türkischen Eindringlinge sie bevorzugten, Peitschen und Knüttel und Zungenhalter und Dolche, die modischen Folterkammern des Heiligen Römischen Reiches. Denn in Ernsts Pornographie ging es nicht um Sex: es ging um Schmerz ohne Hoffnung, es ging um das Sterben ohne eine einzige gute Erinnerung. Ernsts Pornographie bewirkte, daß Susie aus dem Zimmer stürmte, um ein Bad zu nehmen; daß Lilly (natürlich) zu weinen begann; daß mir übel wurde bis zum Erbrechen (zweimal); daß Frank eins der Bücher gegen die Schneiderpuppe schleuderte (als hätte die es geschrieben) - es war das Buch mit dem Titel Die Kinder auf dem Schiff nach Singapur; sie kamen nie in Singapur an, nicht ein einziges kostbares Kind.
    Doch bei Franny bewirkte das alles nur ein Stirnrunzeln. Es bewirkte, daß sie über Ernst nachdachte; es bewirkte, daß sie ihn stellte und ihn - zum Auftakt - fragte, warum er das schreibe.
    »Dekadenz stärkt die revolutionäre Position«, sagte Ernst zu ihr, langsam - und Frank

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