Das Hotel New Hampshire
kämpfte um die exakte Übersetzung. »Alles, was dekadent ist, beschleunigt den Prozeß, die unvermeidliche Revolution. In der gegenwärtigen Phase ist es erforderlich, Ekel hervorzurufen. Politischen Ekel, ökonomischen Ekel, Ekel vor unseren unmenschlichen Institutionen und moralischen Ekel - Ekel vor uns selbst, vor dem, was - mit unserer Billigung - aus uns geworden ist.«
»Der meint sich selber«, flüsterte ich Franny zu, aber sie runzelte nur die Stirn; sie war zu sehr auf ihn konzentriert.
»Der Pornograph ist natürlich besonders ekelhaft«, fuhr Ernst mit eintöniger Stimme fort. »Aber wenn ich ein Kommunist wäre, was würde ich mir dann wohl für eine Regierung an der Macht wünschen? Eine möglichst liberale? Nein. Ich wünschte mir eine möglichst repressive, möglichst kapitalistische und möglichst anti kommunistische Regierung - denn unter ihr würde ich hochkommen. Wo wäre die Linke ohne die Hilfe der Rechten? Je idiotischer und rechtslastiger alles ist, desto besser für die Linke.«
»Bist du ein Kommunist?« fragte ihn Lilly. Sie wußte nur, daß die in Dairy, New Hampshire, nicht gerade hoch im Kurs standen.
»Das war nur eine notwendige Phase«, sagte Ernst und redete vom Kommunismus und von sich selbst - und zu uns Kindern -, als seien wir alle bereits Geschichte, als sei irgend etwas Gewaltiges in Bewegung geraten und wir würden entweder davon mitgerissen oder als Abgas weggepustet. »Ich bin Pornograph«, sagte Ernst, »weil ich der Revolution diene. Persönlich«, fügte er mit einer schlappen Handbewegung hinzu, »also ... persönlich bin ich ein Ästhet: ich denke über das Erotische nach. Wenn Schwanger ihren Kaffeehäusern nachweint - wenn sie wegen ihres Schlagobers traurig ist, der von der Revolution verzehrt werden muß -, dann trauere ich um die Erotik, denn auch sie muß weichen. Irgendwann nach der Revolution«, seufzte Ernst, »taucht die Erotik vielleicht wieder auf, aber sie wird nie wieder so sein wie vorher. In der neuen Welt wird sie nie mehr so viel bedeuten.«
»Der neuen Welt?« wiederholte Lilly, und Ernst schloß die Augen, als sei dies der Refrain seines Lieblingsliedes, als könne er sie vor seinem geistigen Auge bereits sehen, »die neue Welt«, einen völlig andersgearteten Planeten - bevölkert von völlig neuen Wesen.
Ich fand, für einen Revolutionär hatte er ziemlich feingliedrige Hände; seine langen, schlanken Finger kamen ihm wahrscheinlich an der Schreibmaschine zustatten - an seinem Klavier, wo Ernst die Musik für seine Oper von der gigantischen Veränderung spielte. Sein billiger, schon etwas blank gewetzter marineblauer Anzug war gewöhnlich sauber, aber zerknittert; seine weißen Hemden waren gut gewaschen, aber nie gebügelt; er trug keine Krawatte; wenn seine Haare zu lang wurden, schnitt er sie zu kurz. Er hatte ein fast athletisches Gesicht, frisch geschrubbt, jugendlich, entschlossen - ein knabenhafter Schönling. Susie der Bär und Fehlgeburt erzählten uns, er habe unter seinen Studentinnen an der Universität den Ruf eines Weiberhelden. Wenn Ernst über erotische Literatur sprach, war er, wie Miss Miscarriage bemerkte, recht leidenschaftlich, ja sogar ausgelassen; er war dann nicht der schlaffe, lässige, irgendwie faule und träge (oder wenigstens lethargische) Redner, der er beim Thema ›Revolution‹ war.
Er war ziemlich groß; massig wirkte er nicht gerade, aber auch nicht zerbrechlich. Wenn ich sah, wie er das Genick einzog und den Kragen seines Jacketts hochschlug - um nach einem zweifellos traurig stimmenden und widerlichen Arbeitstag das Gasthaus Freud zu verlassen und nach Hause zu gehen -, dann war ich verblüfft, wie sehr er mich im Profil an Chipper Dove erinnerte.
Doves Hände sahen auch nie wie die eines Spielmachers im Football aus - auch seine waren zu zierlich. Und ich erinnerte mich an die Bewegung, mit der er seine Schulterpolster zurechtrückte und zum Kreis der Spieler zurücktrabte und sich dabei den nächsten Spielzug überlegte - die nächste Anweisung, das nächste Kommando -, und seine Hände ließen sich dabei leicht wie Singvögel auf seinen Hüftpolstern nieder. Natürlich wußte ich da, wer Ernst war: der Spielmacher der Radikalen, der Mann, der die Anweisungen gab, der finstere Planer, der Mann, um den sich die anderen scharten. Und nun wußte ich auch, was Ernst für Franny so anziehend machte. Es war mehr als eine rein äußerliche Ähnlichkeit mit Chipper Dove, es war diese forsche
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