Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Der Tisch war nicht annähernd so schwer, und so packte ich ihn behutsam mit einer Hand und hob ihn über meinen Kopf, so wie ein Kellner ein Tablett hochheben würde. »Und nun zum guten alten Trotzki«, sagte ich. »›Wenn ihr ein bequemes Leben haben wollt‹, sagte der gute alte Trotzki, ›dann habt ihr euch das falsche Jahrhundert ausgesucht‹ Finden Sie, daß er recht hat?« fragte ich den bärtigen Mann. Er sagte nichts, aber das junge Mädchen stieß ihn leise an, und er blickte wenigstens auf.
    »Ich finde, er hat recht«, sagte das Mädchen.
    »Klar hat er recht«, sagte ich. Mir war bewußt, daß die Kellner nervös beobachteten, wie die Drinks und der Aschenbecher auf der Tischplatte über meinem Kopf ein wenig hin und her rutschten, aber ich war nicht Iowa-Bob; bei mir rutschten die Gewichte nie von der Hantel, jedenfalls nicht mehr. Mit den Gewichten war ich mittlerweile besser als Iowa-Bob.
    »Trotzki wurde mit einer Spitzhacke erschlagen«, sagte der Bärtige mürrisch und gab sich Mühe, unbeeindruckt zu bleiben.
    »Aber er ist nicht tot, stimmt's?« fragte ich mit einem irren Lächeln. »Nichts ist wirklich tot«, sagte ich. »Nichts von dem, was er gesagt hat, ist tot«, sagte ich. »Gemälde, die wir immer noch ansehen können - die sind nicht tot«, sagte ich. »Charaktere in Büchern - die sterben nicht, wenn wir aufhören, von ihnen zu lesen.«
    Der bärtige Mann starrte auf die Stelle, an der eigentlich sein Tisch stehen sollte. Im Grunde genommen blieb er sehr würdevoll, dachte ich, und ich wußte, daß ich schlechte Laune hatte und unfair war. Mir wurde bewußt, daß ich den starken Mann spielte, und ich schämte mich. Ich gab den zweien ihren Tisch zurück; nichts wurde verschüttet.
    »Ich weiß, was Sie meinen!« rief das Mädchen hinter mir her. Aber ich wußte, ich hatte noch keinen am Leben erhalten, nie: auch nicht die Leute in der Oper, denn unter ihnen saß gewiß diese Gestalt, die Frank und ich in dem wegfahrenden Auto gesehen hatten, zwischen Ernst und Arbeiter, diese tierische Gestalt des Todes, dieser mechanische Bär, dieser Hundekopf voller Chemie, diese elektrische Ladung Kummer. Und was immer Trotzki gesagt hatte, er war tot; auch Mutter und Egg und Iowa-Bob waren tot - trotz allem, was sie gesagt hatten, trotz allem, was sie uns bedeutet hatten. Ich ging hinaus auf den Graben und fühlte mich immer mehr wie Frank, wie ein Mitglied seiner ›Gegen-Alles‹-Sekte; ich hatte mich irgendwie nicht mehr in der Gewalt. Das ist ein übles Gefühl für einen Gewichtheber.
    Die erste Prostituierte, die mir begegnete, war keine der unseren, aber ich hatte sie schon öfter gesehen - im Cafe Mowatt.
    »Guten Abend«, sagte sie.
    »Fick dich ins Knie«, gab ich zurück.
    »Wichser«, sagte sie; sie hatte mein Englisch verstanden, und ich fühlte mich mies. Ich gebrauchte wieder üble Ausdrücke. Ich hatte das Versprechen gebrochen, das ich meiner Mutter gegeben hatte. Es sollte das erste und das letzte Mal sein. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, und ich fing an zu weinen. Ich bog in die Spiegelgasse ein. Es gab Nutten dort, aber es waren nicht unsere Nutten, und so machte ich gar nichts. Wenn sie »Guten Abend« sagten, antwortete ich mit »Guten Abend«. Auf die Dinge, die sie sonst noch sagten, antwortete ich nicht. Ich überquerte den Neuen Markt; ich spürte die Leere in der Brust der Habsburger in ihrer Gruft. Wieder rief mich eine Nutte an.
    »He, heul doch nicht!« rief sie mir zu. »So ein großer starker Junge wie du - der heult doch nicht!«
    Aber ich hoffte, daß ich nicht nur für mich, sondern für sie alle weinte. Für Freud und die Namen, die er am Judenplatz ausrief, ohne ein Echo zu bekommen; für Vater, der nichts sehen konnte. Für Franny, denn ich liebte sie - und ich wollte, daß sie mir so treu war, wie sie sich Susie dem Bären gegenüber erwiesen hatte. Auch für Susie, denn Franny hatte mir gezeigt, daß Susie keineswegs häßlich war. Ja, Franny hatte fast Susie selbst davon überzeugt. Für Junior Jones, der sich die erste der Knieverletzungen zugezogen hatte, die seinen Abschied von den Cleveland Browns erzwingen sollten. Für Lilly, die sich so sehr anstrengte, und für Frank, der sich so weit entfernt hatte (um dem Leben näher zu sein, wie er sagte). Für die Dunkle Inge, die achtzehn war - die sagte, sie sei »alt genug«, obwohl Kreisch-Annie das beharrlich abstritt -, die noch vor Ablauf des Jahres weglaufen würde, mit einem Mann. Er war so schwarz

Weitere Kostenlose Bücher