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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gefragt.
    »Wachstumsversuche«, hatte Lilly zugegeben.
    »Und weiter?« sagte Franny.
    »Wie weit geht es denn?« fragte Frank. »Ich meine, wo hört es auf?«
    »Es geht bis zum Flugzeugabsturz«, sagte Lilly. »Das ist das Ende.«
    Das Ende der Wirklichkeit, dachte ich: die Zeit unmittelbar vor dem Flugzeugabsturz, das schien ein sehr guter Endpunkt - aus meiner Sicht.
    »Du wirst einen Agenten brauchen«, sagte Frank zu Lilly. »Und der werde ich sein.«
    Frank wurde tatsächlich Lillys Agent; er wurde auch Frannys Agent und Vaters Agent und sogar mein Agent - zum gegebenen Zeitpunkt. Er hatte nicht umsonst Volkswirtschaft studiert. Aber das wußte ich an jenem Spätsommerabend 1964 noch nicht, als ich von der armen Fehlgeburt kam, die bereits schlief und zweifellos von ihrem spektakulären Opfer träumte; ihr entbehrliches Wesen war praktisch alles, was ich sehen konnte, als ich allein auf dem Heldenplatz stand und daran dachte, wie es Hitler erreicht hatte, daß eine solche Masse wahrhaft Überzeugter so viele Menschen als entbehrlich ansah. In der Stille des Abends konnte ich das hirnlose »Sieg-Heil«- Geschrei fast hören. Ich konnte den verbissenen Ernst im Gesicht von Schraubenschlüssel sehen, wie er an einer Schraube im Motorblock die Mutter über der Unterlegscheibe anzog. Und was für Schrauben hatte er sonst noch angezogen? Ich konnte den stumpfen Glanz der Hingabe in Arbeiters Augen sehen, wenn er nach seiner triumphalen Festnahme eine Presseerklärung abgab - und unsere mütterliche Schwanger bei ihrem Kaffee mit Schlagobers, der auf ihrer flaumbedeckten Oberlippe einen lustigen kleinen Schnurrbart hinterließ. Ich konnte sehen, wie Schwanger Lillys dicken Zopf flocht und, angetan von Lillys prächtigem Haar, vor sich hin summte, so wie Mutter immer gesummt hatte; wie Schwanger Franny erzählte, sie habe die schönste Haut und die schönsten Hände der Welt; und ich hätte Schlafzimmeraugen, sagte Schwanger - oh, ich würde mal ein Gefährlicher, warnte sie mich. (Nachdem ich gerade Fehlgeburt verlassen hatte, kam ich mir nicht sehr gefährlich vor.) Es würde immer ein bißchen Schlagobers dabei sein, wenn Schwanger einen küßte. Und von Frank sagte Schwanger, er sei ein Genie; wenn er sich doch nur mehr Gedanken über die Politik machen würde. Mit so viel Zuneigung deckte Schwanger uns zu - und das alles mit einem Revolver in ihrer Handtasche. Ich wollte Ernst einmal in der Kuhstellung erleben - mit einer Kuh! Und in der Elefantenstellung! Womit, ist ja wohl klar. Die waren so wahnsinnig, wie der Alte Billig ihnen vorwarf; sie würden uns alle umbringen.
    Ich schlenderte auf der Dorotheergasse zum Graben. Ich ging ins Hawelka zu einem Kaffee mit Schlagobers. Ein bärtiger Mann am Nebentisch erklärte einem jungen Mädchen (sie war jünger als er), warum die gegenständliche Malerei tot sei; er gab ihr eine Beschreibung des spezifischen Bildes, in dem diese ganze Kunstform ihren Tod fand, wie er sagte. Ich kannte das Bild nicht. Ich dachte an die Schieles und die Klimts, die Frank mir gezeigt hatte - in der Albertina und im Oberen Belvedere. Ich wünschte, Klimt und Schiele könnten mit diesem Mann reden, aber der Mann war inzwischen beim Tod des Reims und des Metrums in der Dichtung; auch das betreffende Gedicht kannte ich nicht. Und als er zum Roman überwechselte, hielt ich es für das Beste, zu zahlen und zu gehen. Mein Kellner hatte aber zu tun, und so mußte ich mir die Geschichte vom Tod der Handlung und der ausgeformten Charaktere anhören. Unter die vielen Tode, die der Mann schilderte, reihte er auch den Tod des Mitgefühls ein. Als ich zu spüren begann, wie das Mitgefühl in mir abstarb, kam endlich mein Kellner. Die Demokratie starb den nächsten Tod; sie kam und ging schneller, als mein Kellner mein Wechselgeld abgezählt hatte. Und der Sozialismus war gestorben, noch bevor ich mir die Höhe des Trinkgelds überlegen konnte. Ich starrte den bärtigen Mann an und hatte Lust zum Gewichtheben; ich dachte, wenn die Radikalen die Oper in die Luft jagen wollten, dann sollten sie es an einem Abend tun, wenn nur dieser bärtige Mann dort war. Mir schien, ich hatte einen Ersatzfahrer für Fehlgeburt gefunden.
    »Trotzki«, platzte das junge Mädchen neben dem bärtigen Mann plötzlich heraus - als sage sie: »Danke.«
    »Trotzki?« sagte ich und beugte mich über ihren Tisch; es war ein kleiner rechteckiger Tisch. Beim einarmigen Wickeln arbeitete ich in den Tagen mit SiebzigpfundHanteln.

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