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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einen kleinen Satz machte. »Nicht hier, jedenfalls«, flüsterte sie grimmig, bevor sie mich losließ. »Vielleicht ist es nur Lust«, fügte sie hinzu. »Willst du mit deiner Lust nicht zu einer anderen gehen und sehen, ob die Sache zwischen uns nicht verfliegt?«
    »Wo ist schon eine andere?« sagte ich. Es war spät nachmittags in ihrem Zimmer. Ich wagte nicht, nach Einbruch der Dunkelheit bei Franny im Zimmer zu sein.
    »An welche denkst du?« fragte mich Franny. Ich wußte, sie meinte die Nutten.
    »Jolanta«, sagte ich, wobei unwillkürlich meine Hand ausschlug und einen Lampenschirm knickte. Franny kehrte mir den Rücken zu.
    »Du weißt ja, an wen ich denke, nicht wahr?« fragte sie.
    »Ernst«, sagte ich, und meine Zähne klapperten - so kalt war mir plötzlich.
    »Gefällt dir der Gedanke?« fragte sie mich.
    »Gott, nein«, flüsterte ich.
    »Du und deine verdammte Flüsterei«, sagte Franny. »Nun, du und Jolanta, das gefällt mir auch nicht.«
    »Wir tun's also nicht«, sagte ich.
    »Ich fürchte, wir tun's«, sagte sie.
    »Aber warum denn, Franny?« sagte ich und ging durch das Zimmer auf sie zu.
    »Nein, bleib stehen!« schrie sie und wich so aus, daß ein Teil ihres Schreibtischs zwischen uns stand; außerdem versperrte eine zerbrechliche Stehlampe den Weg.
    Jahre danach schickte Lilly uns beiden ein Gedicht. Als ich das Gedicht gelesen hatte, rief ich Franny an, um zu erfahren, ob Lilly auch ihr ein Exemplar geschickt hatte; natürlich hatte sie das. Das Gedicht stammte von einem sehr guten Dichter namens Donald Justice, und später einmal hörte ich Mr. Justice seine Gedichte in New York lesen. Mir gefielen sie alle, aber ich saß da und hielt den Atem an, denn zum einen hoffte und zum anderen fürchtete ich, er würde jenes Gedicht lesen, das Lilly an Franny und mich geschickt hatte. Er las es nicht, und ich wußte nach der Lesung nicht, was tun. Leute redeten mit ihm, aber es schienen Freunde von ihm zu sein - oder vielleicht waren es einfach andere Dichter. Lilly erzählte mir, Dichter sähen gerne so aus, als seien sie alle miteinander befreundet. Aber ich wußte nicht, was tun; wäre Franny bei mir gewesen, wären wir einfach schnurstracks auf Donald Justice losgegangen, und er wäre von Franny, glaube ich, völlig überwältigt gewesen - das geht den Leuten immer so. Mr. Justice sah wie ein echter Gentleman aus, und ich will nicht sagen, daß er sich gleich auf Franny gestürzt hätte. Ich dachte mir, er wäre - wie seine Gedichte - zugleich aufrichtig und förmlich, ernst, vielleicht sogar feierlich - dabei aber offen, ja großzügig. Er sah aus wie ein Mann, den man bitten würde, ein Klagelied für jemanden vorzutragen, den man geliebt hat; ich glaube, zu Iowa-Bob wäre ihm etwas Herzzerreißendes eingefallen, und als ich ihn nach seiner Lesung in New York dastehen sah, umringt von einigen sehr elegant aussehenden Bewunderern, wünschte ich mir, er hätte eine Art Klagelied für Mutter und Egg schreiben und vortragen können. In gewissem Sinn hat er ein Klagelied für Egg geschrieben; es gibt ein Gedicht von ihm mit dem Titel ›Auf den Tod von Freunden in der Kindheit‹, und das habe ich ganz persönlich als ein Klagelied für Egg aufgefaßt. Frank und ich lieben dieses Gedicht, aber Franny sagt, es mache sie zu traurig.
     
Auf den Tod von Freunden in der Kindheit
     
Wir werden sie niemals bärtig im Himmel antreffen,
    Noch kahl sich sonnend in der Hölle;
    Wenn irgendwo, dann auf dem verlassenen Schulhof am dämmrigen Abend,
    Einen Kreis bildend vielleicht, oder Hand in Hand
    Bei Spielen, deren Namen wir schon längst vergessen.
    Komm, Erinnerung, suchen wir sie dort in den Schatten.
     
    Aber als ich Mr. Justice in New York sah, dachte ich hauptsächlich an Franny und das Gedicht ›Liebeslisten‹ - so hieß das Gedicht, das Lilly Franny und mir geschickt hatte. Ich wußte nicht einmal, was ich zu Mr. Justice sagen sollte. Ich war so verlegen, daß ich ihm nicht einmal die Hand geben konnte. Wahrscheinlich hätte ich ihm gesagt, ich wollte, ich hätte das Gedicht ›Liebeslisten‹ schon damals gelesen, als ich mit Franny in Wien war, am toten Punkt des Sommers 1964.
    »Aber hätte das überhaupt eine Rolle gespielt?« fragte mich Franny später. »Hätten wir es geglaubt - damals?«
    Ich weiß nicht einmal, ob Donald Justice ›Liebeslisten‹ 1964 schon geschrieben hatte. Doch, er muß es damals geschrieben haben; es scheint ganz und gar auf Franny und mich gemünzt zu sein.
    »Es

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