Das Hotel New Hampshire
»Ich habe dich doch gebeten, ihn wegzulassen.«
»Da war nichts getürkt«, flüsterte sie. Aber bevor ich noch daran denken konnte, diese Neuigkeit als ein Kompliment aufzufassen, fügte sie hinzu: »Ich türke nie einen Orgasmus. Die sind alle echt«, sagte Kreisch-Annie. »Verdammt nochmal, was glaubst du denn, warum ich so ein Wrack bin?« fragte sie mich. Und was glaubte ich, warum sie wohl so fest entschlossen war, ihre Tochter aus dem »Geschäft« herauszuhalten?
»Es tut mir leid«, flüsterte ich.
»Ich hoffe, sie jagen tatsächlich die Oper in die Luft«, sagte Kreisch-Annie. »Ich hoffe, sie erwischen auch das Hotel Sacher«, fügte sie hinzu. »Ich hoffe, sie sprengen die ganze Kärntner Straße weg«, fügte sie hinzu. »Und die Ringstraße, und all die Leute auf der Straße. All die Männer«, flüsterte Kreisch-Annie.
Franny wartete am Treppenabsatz auf mich. Sie sah auch nicht schlimmer aus als ich. Ich setzte mich neben sie, und wir fragten einander, ob »alles in Ordnung« sei. Von keinem kam eine sehr überzeugende Antwort. Ich fragte Franny, was sie von Ernst erfahren habe, und sie fröstelte. Ich legte den Arm um sie, und wir lehnten uns zusammen gegen das Treppengeländer. Ich fragte sie noch einmal.
»Ich habe alles erfahren, glaube ich«, flüsterte sie. »Was möchtest du wissen?«
»Alles«, sagte ich, und Franny schloß die Augen und legte den Kopf an meine Schulter und das Gesicht an meinen Hals.
»Liebst du mich immer noch?« fragte sie.
»Ja, natürlich«, flüsterte ich.
»Und du willst alles wissen?« fragte sie. Ich hielt den Atem an, und sie sagte: »Die Kuhstellung? Willst du darüber etwas wissen?« Ich hielt sie nur fest; ich konnte nichts sagen. »Und die Elefantenstellung?« fragte sie mich. Ich spürte, wie sie zitterte; sie gab sich alle Mühe, nicht zu weinen. »Ich kann dir ein paar Dinge über die Elefantenstellung erzählen«, sagte Franny. »Hauptsächlich eins: sie tut weh«, sagte sie, und sie fing an zu weinen.
»Er hat dir weh getan?« fragte ich sie leise.
»Die Elefantenstellung hat mir weh getan«, sagte sie. Wir saßen eine Weile ruhig da, bis sie nicht mehr zitterte. »Möchtest du, daß ich dir noch mehr erzähle?« fragte sie mich.
»Darüber jedenfalls nicht«, sagte ich.
»Liebst du mich immer noch?« fragte Franny.
»Ja, ich kann nicht anders«, sagte ich.
»Du Armer«, sagte Franny.
»Du Arme«, sagte ich zu ihr.
Eines zumindest ist schrecklich mit Liebenden - mit richtigen Liebenden, meine ich: mit Leuten, die ineinander verliebt sind. Selbst wenn es ihnen elend geht und wenn sie einander zu trösten versuchen, selbst dann noch genießen sie jede körperliche Berührung als einen sexuellen Reiz; selbst wenn sie mehr oder weniger in Trauer sind, können sie sexuell erregt werden. Franny und ich hätten nicht mehr länger eng umschlungen auf der Treppe sitzen können; es war unmöglich, einander irgendwie zu berühren und nicht alles berühren zu wollen.
Wahrscheinlich sollte ich Jolanta dankbar sein, daß sie uns störte. Jolanta war auf dem Weg nach draußen, wo sie auf der Straße nach einem neuen Opfer für ihre Mißhandlungen suchen würde. Sie sah Franny und mich auf der Treppe sitzen und zielte mir mit ihrem Knie genau ins Rückgrat. »O Verzeihung!« sagte sie. Und an Franny gewandt, fügte sie hinzu: »Laß dich mit dem nicht ein. Der kann nicht kommen.«
Wortlos gingen Franny und ich mehr oder weniger hinter Jolanta her hinunter in die Lobby - nur daß Jolanta durch die Lobby hinaus auf die Krugerstraße ging, während Franny und ich nach Susie dem Bären schauten. Susie schlief auf der Couch, auf der der Aschenbecher ausgeleert worden war; auf ihrem Gesicht lag ein fast heiterer Ausdruck - Susie war nicht annähernd so häßlich, wie sie immer glaubte. Franny hatte mir erzählt, daß Susies scherzhafte Bemerkung, sie sei der Prototyp des Mädchens, von dem sie sagen: ›Nicht schlecht, wenn man ihr einen Sack über den Kopf stülpt‹, in Wirklichkeit nicht sehr lustig war; die zwei Männer, die sie vergewaltigt hatten, hatten ihr tatsächlich einen Sack über den Kopf gestülpt - »damit wir dich nicht ansehen müssen«, hatten sie zu ihr gesagt. Grausamkeiten dieser Art können jeden Menschen zum Bären machen.
»Vergewaltigungen sind mir wirklich ein Rätsel«, gestand ich später Susie dem Bären, »weil eine Vergewaltigung für mich die unmenschlichste Erfahrung ist, die sich überleben läßt; wir können zum Beispiel
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