Das Hotel New Hampshire
vieren. Nackt und von Ästen zerkratzt und meistens auf allen vieren kriechend erreichte er schließlich die Tür des Studienleiters im Wohnheim.
Der Studienleiter für die Jungen war an der Dairy School nicht mehr glücklich, seit die Schule auch Mädchen aufnahm. Vorher war er einfach Studienleiter gewesen - ein untadeliger, durchtrainierter Pfeifenraucher mit einer Vorliebe für Tennis und verwandte Sportarten; er hatte eine lebhafte, durchtrainierte Frau von der jugendfrischen Cheerleader-Sorte, deren wahres Alter nur von den alarmierenden Säcken unter den Augen verraten wurde; Kinder hatten sie nicht. »Die Jungs«, hatte der Studienleiter gern gesagt, »sind alles meine Kinder.«
Als dann die »Mädchen« kamen, brachte er ihnen nicht die gleichen Gefühle entgegen und machte seine Frau rasch zu seiner Assistentin, zur Studienleiterin für die Mädchen. Sein neuer Titel, Studienleiter für die Jungen, gefiel ihm zwar, aber er verzweifelte über all den neuen Schwierigkeiten, in die seine Jungs gerieten, seit es Mädchen an der Dairy School gab.
»O nein«, sagte er wahrscheinlich, als er Chester Pulaski an seiner Tür kratzen hörte. »Ich hasse Halloween.«
»Ich seh schon nach«, sagte seine Frau, und die Studienleiterin für die Mädchen ging zur Tür. »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie fröhlich, »belohnst du mich, verschon ich dich!«
Und da war ein nackter, sich krümmender Chester Pulaski, der Abwehrspieler aus dem Rückraum - von flammenden Furunkeln übersät und voller Sexgerüche.
Das Kreischen der Studienleiterin soll in dem Wohnheim, wo die beiden Studienleiter wohnten, die unteren zwei Stockwerke aufgeweckt haben - und sogar Mrs. Butler, die Nachtschwester, die im Nebenhaus in der Krankenstation an ihrem Schreibtisch schlief. »Ich hasse Halloween«, sagte sie wahrscheinlich zu sich selbst. Sie ging an die Tür und sah Junior Jones und Harold Swallow und mich; Junior trug Franny.
Ich hatte Franny in den Farnen beim Anziehen geholfen, und Junior Jones hatte versucht, ihr Haar zu entwirren, während sie weinte und weinte, und schließlich hatte er zu ihr gesagt: »Willst du zu Fuß gehen oder mit mir?« Genau mit diesen Worten hatte Vater vor Jahren immer uns Kinder gefragt, ob wir zu Fuß gehen oder mit dem Auto fahren wollten. Junior meinte natürlich, er würde Franny tragen, und das wollte sie - und so trug er sie.
Er trug sie an der Stelle in den Farnen vorbei, wo Lenny Metz an einen Lacrosseschläger gefesselt wurde, um auf eine andere Art befördert zu werden. Franny weinte und weinte, und Junior sagte: »Hör mal, du bist ein gutes Mädchen, ich kann das sehr gut beurteilen.« Aber Franny weinte weiter. »He, paß auf«, sagte Junior Jones. »Ich will dir mal was sagen. Wenn dich jemand anfaßt, und du willst nicht angefaßt werden, dann wirst du nicht wirklich angefaßt - du mußt mir das glauben. Das bist dann gar nicht du, was die da anfassen; so erwischen sie dich nicht wirklich, verstehst du? Du hast immer noch dich in dir drin. Keiner hat dich angefaßt - nicht wirklich. Du bist ein wirklich gutes Mädchen, glaubst du mir das? Du hast immer noch dich in dir drin, glaubst du mir das?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Franny und weinte weiter. Der eine ihrer Arme baumelte an Juniors Seite, und ich ergriff ihre Hand; sie drückte meine Finger; ich drückte zurück.
Harold Swallow, pfeilschnell zwischen den Bäumen durchhuschend, eilte voraus, fand die Krankenstation und öffnete die Tür.
»Was soll das alles?« sagte die Nachtschwester, Mrs. Butler.
»Ich bin Franny Berry«, sagte meine Schwester, »ich bin verprügelt worden.«
»Verprügelt« blieb auch künftig Frannys beschönigender Ausdruck dafür, obwohl jeder wußte, daß sie vergewaltigt worden war. Sie sei »verprügelt« worden - mehr ließ Franny nicht zu, obwohl keinem verborgen blieb, was tatsächlich gewesen war; doch so wurde es nie offiziell.
»Sie meint damit, sie ist vergewaltigt worden«, sagte Junior Jones zu Mrs. Butler. Doch Franny schüttelte nur den Kopf. Ich glaube, sie interpretierte Juniors Freundlichkeit und seine Bemerkung, daß sie nicht in ihrem Innersten angefaßt worden sei, so, daß sie die sexuelle Mißhandlung einfach in einen Kampf umdeutete, den sie verloren hatte. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr - sie lag immer noch in seinen Armen und an seiner Brust -, und dann stellte er sie auf ihre eigenen Beine und sagte zu Mrs. Butler: »Also gut, sie ist verprügelt worden.« Mrs. Butler
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