Das Hotel New Hampshire
»sondern wie.«
Und so rutschten wir durch den November - zu Beginn des Monats ein unpassendes Schneegestöber: eigentlich hätte es Regen sein müssen, das war mir klar. Was hatte es zu bedeuten, daß es kein Regen war? fragte ich mich und dachte dabei an Ronda Ray und ihren Tagesraum.
Es war ein trockener November.
Egg hatte eine Serie von Ohrenentzündungen; er schien die meiste Zeit an partieller Taubheit zu leiden.
»Egg, was hast du mit meinem grünen Pullover gemacht?« fragte Franny.
»Was?« sagte Egg.
»Mein grüner Pullover!« schrie Franny.
»Ich hab keinen grünen Pullover«, sagte Egg.
»Es ist mein grüner Pullover!« rief Franny. »Er hat ihn gestern seinem Bären angezogen - ich hab's gesehen«, sagte Franny zu Mutter. »Und jetzt kann ich ihn nicht finden.«
»Egg, wo ist dein Bär?« fragte Mutter.
»Franny hat keinen Bären«, sagte Egg. »Das ist mein Bär.«
»Wo ist meine Rennmütze?« fragte ich Mutter. »Gestern abend lag sie noch auf dem Heizkörper im Flur.«
»Eggs Bär hat sie wahrscheinlich auf«, sagte Frank. »Und er ist gerade draußen und läuft seine Sprintserien.«
»Was?« sagte Egg.
Auch Lilly hatte medizinische Probleme. Kurz vor Thanksgiving gingen wir wie jedes Jahr zu unserem Hausarzt - einem alten Knacker namens Dr. Brand, bei dem es, wie Franny bemerkte, kaum noch flackerte -, und der entdeckte bei seiner Routine-Untersuchung, daß Lilly im letzten Jahr nicht mehr gewachsen war. Sie hatte kein Pfund, keinen Millimeter zugelegt. Sie war genau so klein, wie sie mit neun gewesen war, und damit kaum größer als mit acht - oder (wie ein Blick in die Aufzeichnungen ergab) mit sieben.
»Sie wächst nicht?« fragte Vater.
»Ich hab's ja schon immer gesagt, seit Jahren«, sagte Franny. »Lilly wächst nicht - sie ist einfach.«
Auf Lilly schien die Analyse keinen Eindruck zu machen; sie zuckte mit den Achseln. »Dann bin ich eben klein«, sagte sie. »Das sagt man mir die ganze Zeit. Ist das vielleicht schlimm, wenn man klein ist?«
»Überhaupt nicht, mein Schatz«, sagte Mutter. »Du darfst so klein sein wie du willst, aber du solltest schon noch wachsen - wenigstens ein bißchen.«
»Sie gehört zu denen, die eines Tages plötzlich in die Höhe schießen«, sagte Iowa-Bob, aber selbst er schien daran zu zweifeln. Lilly wirkte nicht wie eine, die plötzlich »in die Höhe schießt«.
Wir stellten sie Rücken an Rücken mit Egg; mit seinen sechs Jahren war Egg fast so groß wie Lilly mit ihren zehn, und er wirkte erheblich robuster.
»Halt doch still!« sagte Lilly zu Egg. »Und stell dich nicht dauernd auf die Zehen!«
»Was?« sagte Egg.
»Stell dich nicht auf die Zehen, Egg!« sagte Franny.
»Das sind meine Zehen!« sagte Egg.
»Vielleicht bin ich am Sterben«, sagte Lilly, und alle erschauerten, besonders Mutter.
»Du bist nicht am Sterben«, sagte Vater streng.
»Bloß Frank ist am Sterben«, sagte Franny.
»Nein«, sagte Frank. »Ich bin schon gestorben. Und die Lebenden langweilen mich zu Tode.«
»Aufhören«, sagte Mutter.
Ich ging zum Gewichtheben in Iowa-Bobs Zimmer. Jedesmal wenn die Gewichte vom Ende der Hantelstange rollten, fiel eines von ihnen gegen die Schranktür, und die ging auf, und irgend etwas fiel heraus. In Coach Bobs Schrank sah es furchtbar aus, denn er warf unbekümmert alles hinein. Und als eines Morgens wieder mal ein paar Scheiben von Iowa-Bobs Hantel rutschten, rollte eine von ihnen in den Schrank, und heraus rollte Eggs Bär. Der Bär trug meine Rennmütze, Frannys grünen Pullover und ein Paar von Mutters Nylonstrümpfen.
»Egg!« schrie ich.
»Was?« schrie Egg.
»Ich hab deinen verdammten Bären gefunden!« brüllte ich.
»Das ist mein Bär!« brüllte Egg zurück.
»Jessas Gott«, sagte Vater, und Egg ging zu Dr. Brand, um, noch einmal, seine Ohren überprüfen zu lassen, und Lilly ging zu Dr. Brand, um, noch einmal, ihre Größe überprüfen zu lassen.
»Wenn sie in den letzten zwei Jahren nicht gewachsen ist«, sagte Franny, »dann bezweifle ich, daß sie in den letzten zwei Tagen gewachsen ist.« Aber es gab Tests, die man an Lilly vornehmen konnte, und der alte Dr. Brand versuchte anscheinend herauszufinden, was das für Tests waren.
»Du ißt nicht genug, Lilly«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen, aber versuch mal, ein wenig mehr zu essen.«
»Ich esse aber nicht gern«, sagte Lilly.
Und es wollte nicht regnen - nicht einen Tropfen! Oder wenn es regnete, dann immer nachmittags oder abends. Ich saß
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