Das Hotel New Hampshire
Augenblick hatten wir einen - einen berühmten finnischen Arzt, angeblich, der da war, um seine Tochter an der Dairy School zu besuchen. Sie gehörte zu den Ausländern, die zum Essen kamen. Auch ein Japaner, den Frank von seinem taxidermischen Projekt her kannte, gehörte dazu; der Japaner hatte geschworen, die Ausstopfung von Kummer geheimzuhalten - das wußte ich von Frank -, doch der Junge sprach ein so greuliches Englisch, daß er mit der Wahrheit ruhig hätte herausplatzen können - es hätte ihn ohnehin keiner verstanden. Außerdem waren da noch zwei koreanische Mädchen, deren Hände so hübsch und klein waren, daß Lilly keinen Blick von ihnen wandte - während des ganzen Essens. Vielleicht weckten sie aber in Lilly ein bisher schlummerndes Interesse am Essen, denn mit ihren kleinen Fingern aßen sie alles mögliche - und das sah so zierlich und fein aus, daß auch Lilly in dieser Weise mit ihrem Essen zu spielen begann und schließlich sogar etwas aß. Egg verbrachte natürlich den Tag damit, daß er dem beklagenswert unverständlichen japanischen Jungen sein »Was?« entgegenschrie. Und Junior aß und aß - bis Mrs. Urick vor Stolz schier platzte.
»Also das nenn ich einen Appetit«, sagte Mrs. Urick bewundernd.
»Wenn ich so gebaut wäre, würde ich auch so essen«, sagte Max.
»Nein, das würdest du nie«, sagte Mrs. Urick. »Du hast nicht das Format dazu.«
Ronda Ray war nicht als Kellnerin gekleidet; sie saß bei der Familie am Tisch und sprang immer wieder auf, um abzutragen und Dinge aus der Küche zu holen, unterstützt von Franny und Mutter und dem kräftigen blonden Mädchen aus Finnland, dessen berühmter Vater zu Besuch war.
Das finnische Mädchen war riesig, und ihre Raubvogelbewegungen bei Tisch ließen Lilly immer wieder zusammenzucken. Sie war ein großes Mädchen, Typ blauweißer Skipullover, das immer wieder seinen Vater, einen großen Mann, Typ blau-weißer Skipullover, umarmte.
»Ho!« rief er jedesmal aus, wenn neue Speisen aus der Küche gebracht wurden.
»Ja-huu«, flüsterte Franny.
»Heiliger Strohsack«, sagte Junior Jones.
Iowa-Bob saß neben Jones an dem Tischende, das dem Fernseher über der Bar am nächsten war, so daß sie beim Essen das Footballspiel verfolgen konnten.
»Wenn das eine Beinfessel war, freß ich einen Besen«, sagte Jones.
»Friß einen Besen«, sagte Coach Bob.
»Was ist eine ›Beinfessel‹?« fragte der berühmte finnische Arzt, nur daß es sich anhörte wie »Boinfossel«.
Iowa-Bob bot daraufhin an, an der bereitwilligen Ronda eine Beinfessel zu demonstrieren, und die Koreanerinnen kicherten schüchtern in sich hinein, und der Japaner kämpfte sich ab - mit seinem Truthahn, mit seinem Buttermesser, mit Franks gemurmelten Erklärungen, mit Eggs ständigem »Was!«, mit (offenbar) allem.
»Das ist das lauteste Essen meines Lebens«, sagte Franny.
»Was?« schrie Egg.
»Jessas Gott«, sagte Vater.
»Lilly«, sagte Mutter. »Bitte iß. Dann wächst du auch.«
»Wie, was?« sagte der berühmte finnische Arzt, nur daß es sich anhörte wie: »Wo, wos?« Er blickte Mutter und Lilly an. »Wer wächst nicht?« fragte er.
»Ach, es ist nichts«, sagte Mutter.
»Ich«, sagte Lilly. »Ich habe aufgehört zu wachsen.«
»Das hast du nicht, mein Schatz«, sagte Mutter.
»Ihr Wachstum ist gehemmt, wie es scheint«, sagte Vater.
»Ho, gehemmt!« sagte der Finne und starrte Lilly an. »Du wächst nicht, eh?« fragte er sie. Sie nickte auf ihre kleine Art. Der Doktor legte ihr die Hände auf den Kopf und spähte ihr in die Augen. Alle hörten auf zu essen, außer dem japanischen Jungen und den koreanischen Mädchen.
»Wie sagt man?« fragte der Doktor und sagte dann etwas Unaussprechliches zu seiner Tochter.
»Maßband«, sagte sie.
»Ho, ein Maßband?« rief der Doktor. Max Urick sprang auf und holte eins. Der Doktor maß Lilly um die Brust, um die Hüfte, um die Hand- und Fußgelenke, um die Schultern, um den Kopf.
»Es geht ihr gut«, sagte Vater. »Es ist nichts.«
»Sei still«, sagte Mutter.
Der Doktor schrieb all die Zahlen auf.
»Ho!« sagte er.
»Iß deinen Teller leer, Schatz«, sagte Mutter zu Lilly, doch Lilly starrte auf die Zahlen, die der Doktor auf seiner Serviette notiert hatte.
»Wie sagt man?« fragte der Doktor seine Tochter, und wieder folgte ein unaussprechliches Wort. Diesmal mußte die Tochter passen. »Du weißt es nicht?« fragte sie der Vater. Sie schüttelte den Kopf. »Wo ist das Wörterbuch?« fragte er
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