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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie.
    »Im Wohnheim«, sagte sie.
    »Ho!« sagte er. »Lauf und hol es.«
    »Jetzt?« sagte sie und blickte sehnsüchtig auf ihre zweite Portion Gans und Truthahn und Füllung, die auf ihren Teller gehäuft war.
    »Lauf, lauf!« sagte ihr Vater. » Natürlich jetzt. Lauf! Ho! Lauf!« sagte er, und das große Mädchen, Typ blau-weißer Skipullover, war fort.
    »Es ist - wie sagt man? - ein krankhafter Zustand«, sagte der berühmte finnische Arzt in aller Ruhe.
    »Ein krankhafter Zustand?« sagte Vater.
    »Ein krankhafter Zustand von Wachstumshemmung«, sagte der Doktor. »Es kommt oft vor, und es kann verschiedene Ursachen haben.«
    »Ein krankhafter Zustand von Wachstumshemmung«, wiederholte Mutter.
    Lilly zuckte mit den Achseln; sie versuchte gerade, in der Art der Koreanerinnen einen Schenkel zu häuten.
    Das große, blonde, atemlose Mädchen kam zurück, und es traf sie sichtlich schwer, daß Ronda Ray inzwischen ihren Teller abgetragen hatte; sie gab ihrem Vater das Wörterbuch.
    »Ho!« flüsterte mir Franny über dem Tisch zu, und ich trat unter dem Tisch nach ihr. Daraufhin trat sie nach mir und ich wieder nach ihr, doch aus Versehen erwischte ich Junior Jones.
    »Au«, sagte er.
    »Entschuldigung«, sagte ich.
    »Ho!« sagte der Doktor aus Finnland und tippte mit dem Finger auf das Wort. »Zwergwuchs!« rief er aus.
    Es war still am Tisch, nur der Japaner kämpfte geräuschvoll mit seinem gebutterten Maiskolben.
    »Wollen Sie damit sagen, sie ist ein Zwerg?« fragte Vater den Doktor.
    »Ho, ja! Ein Zwerg«, sagte der Doktor.
    »Scheißdreck«, sagte Iowa-Bob. »Das ist kein Zwerg - das ist ein kleines Mädchen! Das ist ein Kind, Sie Schwachkopf!«
    »Was ist ein ›Schwachkopf‹?« fragte der Doktor seine Tochter, aber sie sagte es ihm nicht.
    Ronda Ray brachte die Kuchen herein.
    »Du bist kein Zwerg, mein Schatz«, flüsterte Mutter Lilly zu, aber Lilly zuckte nur mit den Achseln.
    »Und wenn schon?« sagte sie tapfer. »Ich bin ein gutes Kind.«
    »Quark«, sagte Iowa-Bob, und keiner wußte, ob er damit eine Diät vorschlagen wollte - »Ihr müßt sie nur mit Quark füttern!« - oder ob es nur eine Beschönigung für »Scheißdreck« war.
    Das war jedenfalls Thanksgiving 1956, und so befrachtet trieben wir auf Weihnachten zu: in Gedanken über die richtige Größe, die Liebe belauschend, das Baden aufgebend, auf die passende Pose für Tote hoffend - rennend, Gewichte hebend und in Erwartung des Regens.
    Es war an einem Morgen Anfang Dezember, als Franny mich weckte. In meinem Zimmer war es noch dunkel, und durch die offene Verbindungstür drang das schnorchelnde Geräusch von Eggs Atemzügen - Egg schlief also noch. Da war aber auch ein leiseres, kontrolliertes Atmen viel näher bei mir, und dann hatte ich Frannys Geruch in der Nase - einen Geruch, den ich schon länger nicht mehr wahrgenommen hatte: kräftig und doch nie ranzig, ein bißchen salzig, ein bißchen süß, stark und doch nie sirupartig. Und im Dunkeln wußte ich, daß Franny vom ewigen Baden geheilt war. Als wir meine Mutter und meinen Vater belauscht hatten, war es geschehen; daraufhin, glaube ich, empfand Franny ihren eigenen Geruch wieder als etwas vollkommen Natürliches.
    »Franny?« flüsterte ich, da ich sie nicht sehen konnte. Ihre Hand strich mir über die Wange.
    »Hier drüben«, sagte sie. Sie lag zusammengerollt an der Wand und am Kopfbrett meines Bettes; wie sie sich da hineinzwängen konnte, ohne mich aufzuwecken, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Ich drehte mich zu ihr hin und roch, daß sie sich die Zähne geputzt hatte. »Hör mal«, flüsterte sie. Ich hörte Frannys Herzschlag und meinen Herzschlag und Eggs Tiefseetauchen im Zimmer nebenan. Und da war noch etwas, so gedämpft wie Frannys Atem.
    »Regen, du Dummi«, sagte Franny und bohrte mir einen Knöchel in die Rippen. »Es regnet, Kleiner«, sagte sie mir. »Heute ist dein großer Tag!«
    »Es ist noch dunkel«, sagte ich. »Ich schlafe noch.«
    »Es dämmert«, zischte mir Franny ins Ohr; dann biß sie mich in die Wange und fing an, mich unter der Decke zu kitzeln.
    »Laß das, Franny!« sagte ich.
    »Regen, Regen, Regen«, sang sie. »Sei kein Schlappschwanz. Frank und ich sind schon stundenlang auf.«
    Sie sagte, Frank sei am Schaltkasten und spiele an den Quatschkisten herum. Franny zerrte mich aus dem Bett und sorgte dafür, daß ich mir die Zähne putzte und meine Sportsachen anzog, als hätte ich vor, meine Sprintserien, wie üblich, im Treppenhaus zu

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