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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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Mataleena hinter sich das Schnauben eines Pferdes und zupft ihre Mutter am Ärmel. Marja setzt Juho ab, doch der Junge, der den Schlitten lenkt, schaut an ihnen vorbei, nach vorne, und hält nicht an. Marja fällt auf die Knie und lässt sich seitwärts in den Schnee sinken. Ihr Körper zuckt in langsamen Bewegungen, die Tränen kommen stoßweise im Takt des Atems.
    Mataleena zieht ihre Mutter hoch.
    »Er hält da vorne an, in der Kurve«, sagt sie.
    Marja steht auf und sieht den Schlitten. Der Junge schaut noch immer in Fahrtrichtung vor sich hin. Marja nimmt Juho auf den Arm und stapft mit ihren letzten Kräften auf den Schlitten zu.
    Als sie aufgestiegen sind, schaut sie der Junge ein einziges Mal kurz über die Schulter hinweg an. Sein Blick ist der gleiche wie beim alten Bauern Viklund. Er sagt nichts, schnalzt nur, damit sich das Pferd in Bewegung setzt.
    Juho schläft bei der Fahrt bald ein. Es hat aufgehört zu schneien, man könnte glauben, der Schnee wäre ursprünglich von der Erde aufgestiegen, und nun hätte sie ihn sich wieder als Decke übergezogen. Die ersten Sterne gehen an, und ein graues Tuch bedeckt die Mondscherbe.
    Sie wachen in der Schutzhütte auf, wo der Junge aus der Poststation sie am Vorabend abgesetzt hat. Eine halbe Stunde Fußweg entfernt liegt ein See, so hat der Junge es ihnen beschrieben, und dahinter soll ein Hof kommen.
    Über den See führt eine Winterstraße, aber auch sie ist zugeschneit, Mataleena versinkt bei jedem Schritt fast bis zu den Hüften, obwohl sie versucht, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Es ist anstrengend, durch den Schnee zu waten, Mataleena schließt die Augen und denkt an ihren Vater, an die letzte gemeinsame Bootsfahrt auf dem heimischen See.
    Der Vater war ruhig, er wirkte andächtig, so wie damals, als er den Sarg vom Weiden-Lauri zur Kirche gerudert hatte. Für Mataleena hatte der Vater stattlich ausgesehen, wie er mit festen, langen Zügen das schwere Boot über den See ruderte, aber dann kam starker Wind auf, riss dem Vater fast den Hut vom Kopf, und der Vater zog ihn so tief herunter, dass die Ohren unter der Krempe geknickt wurden. Der Wind versuchte das Boot zu drehen, und der Vater musste kämpfen, um den Kurs und die feierliche Miene zu halten.
    Lauris Sarg war klein. Wie hatte man einen so großen Mann da hineinstopfen können? Hatte man ihm die Beine gekrümmt, sodass er da lag wie Mataleena beim Schlafen in kalten Nächten? Die Mutter hatte ihr erklärt, der Mensch schrumpfe im Tod, etwas von ihm verschwinde, aber die Mutter hatte nicht gewusst, ob es die Seele war, die verschwand, und wenn ja, ob sie wie Dampf davon schwebte wie Wasser aus dem Kessel, wenn man es kocht, oder ob sie als zähe, schwarze Flüssigkeit nach unten abfloss.
    Vielleicht haben verschiedene Menschen unterschiedliche Seelen.
    Mataleena denkt an den Köhler-Kalle, der tot in seiner Hütte gefunden wurde. Niemand hatte ihn besucht, außer Mutter, die mit ihm verwandt war, sowie der Schuster-Roope. Er war es, der den toten Kalle entdeckte und die Mutter holte. Sie nahm Mataleena mit, und es schaudert Mataleena noch heute, wenn sie an den Totengeruch denkt. Unter Kalle sah man eine schwarze Pfütze, kein Blut, sondern Flüssigkeit, die aus dem Körper geronnen war, sagte Roope.
    Von Lauri war keine Pfütze zurückgeblieben, obwohl sein Mund schwarz gewesen war, wie es hieß, vom Gift, sagte der Vater, aber Mataleena fragte sich, ob nicht die Seele durch den Mund entweichen und eine Farbe hinterlassen konnte.
    Roope sagte allerdings, es gäbe gar keine Seele, im Menschen fließe Blut und schwarzes Wasser, die würden versiegen, und der Mensch trockne aus. Aus zwei Säften werde der Mensch gemacht, aus dem Wasser von Mann und Frau. Mataleena wollte wissen, wie das vor sich ging, und Roope erklärte ihr, der Mann lasse seine Flüssigkeit unter die Flüssigkeiten der Frau laufen – so entstehe eine neuer Mensch. Die Mutter verbot Roope, vor den Ohren eines Kindes solche Reden zu führen, fragte aber selbst, wer von beiden das Blut und wer die schwarze Flüssigkeit beisteuere.
    Dann sitzt Mataleena wieder mit ihrem Vater im Boot, und als sie schließlich zu sich kommt, hat sie den See bereits überquert.
    »Hinter dem Hügel dort muss der Hof liegen«, keucht die Mutter vor ihr.
    Mataleena blickt zurück. Ihren Vater sieht sie nicht, sie sieht nur den schneebedeckten See, in dessen Weiß der Vater mit seinem Boot hineingerudert und verschwunden ist.
    Unvermutet rutscht

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