Das Hungerjahr - Roman
die Sonne hinter dem Wolkenschleier zum Horizont herunter. Erst jetzt bemerkt Mataleena das Haus und das Nebengebäude, sie entbrennen wie Feuer, als das Licht das Schneegestöber beiseite wischt. Juho fällt Mataleena vom Arm und bleibt im Schnee sitzen. Mataleena versucht, ihn hochzuziehen. Juho kommt auch auf die Beine, aber dafür fällt Mataleena hin.
Marja starrt auf die klaffenden hungrigen Mäuler an der grauen Wand des Speichergebäudes.
»Hechtköpfe«, sagt sie schließlich.
Schnee ist an den Schädeln hängen geblieben und hat ihnen seltsame Gesichter geformt, und die rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne erzeugen eine unheimliche Glut in den Augenhöhlen. Mataleena sieht eine dunkle Gestalt näher kommen, und im selben Augenblick wird die ganze Welt rot.
Das Wasser rinnt in kleinen Bächen zu beiden Mundwinkeln herein. Mataleena schrickt auf. Im Nacken spürt sie die Wärme einer Hand. Die grauen Deckenbretter schwanken eine Weile über ihr, dann kommen sie zur Ruhe. Das Gesicht einer dünnen Frau erscheint vor den Augen. Mataleena dreht den Kopf und sieht ihre Mutter und Juho auf der Bank neben der Tür sitzen.
»Mach eine Milchsuppe, eine dünne Milchsuppe für die Bettler«, sagt eine Männerstimme.
»Wär nicht was zu essen da, wenigstens für die Kinder? Die sehen so hungrig aus«, sagt eine Frau.
»Alle sehen sie hungrig aus. Wann hast du das letzte Mal einen stämmigen Menschen gesehen, außer auf der Kanzel?«
»Was für lasterhafte Reden in so einer Zeit. Wann bist du zuletzt in der Kirche gewesen?«, ereifert sich die Frau.
Sie schöpft Milchsuppe aus dem Topf in eine Holzschale. Juho sitzt bereits am Tisch und isst gierig die graue Suppe. Mataleena wartet, bis sie an der Reihe ist, sie bekommt ihren Anteil nach Juho aus derselben Schale. Juho schläft auf der Bank ein, während Mataleena noch isst.
»Die Bettler dürfen über Nacht bleiben. Von Vääräjärvi wird niemand in die Nacht hinausgejagt, schon gar nicht Frauen und Kinder. Aber morgen früh müsst ihr gehen. Ihr kommt mit mir auf dem Schlitten ins Kirchdorf, ich geh gucken, ob es im Gemeindespeicher noch Nothilfemehl gibt«, sagt der Mann.
Marja antwortet mit einem Nicken. Die Bäuerin bringt ihr die Schale. Sie hat sie leer geschlürft, bevor die Bäuerin ihr einen Löffel geben kann. Dann fällt Marja in tiefen Schlaf. Juhani ruft sie.
Juhani ist ein Prachttaucher. Es ist Sommer, Herbst und Frühling, die schneelosen Jahreszeiten. Marja irrt durch einen Kiefernwald. Zwischen den Bäumen sieht sie einen Teich aufblitzen, sein Wasser ist schwarz, aber klar. Marja findet jedoch nicht den Weg ans Ufer. Jedes Mal stößt sie auf einen neuen Baum, um den sie herumgehen muss. Schließlich merkt sie, dass sie in die falsche Richtung abgebogen ist.
Sie kennt den Wald nicht, aber den Teich kennt sie. Juhani hat sie dort hingebracht, vor Jahren. Sie hört Juhanis Ruf: U-uui, U-uui, U-uui.
Marja versucht, die Stimme anzusteuern, aber das Echo hallt durch den ganzen Wald und stört die Orientierung. Bald fliegt Juhani auf und lässt sie allein in der Wildnis zurück, und der Teich verwaist. Wenn Juhani davonfliegt, werden auch die Kinder nicht geboren.
Plötzlich glitzert das schwarze Wasser des Teichs in der Ferne. Zu weit weg. Marja rennt ihm entgegen, sie lässt den Teich nicht aus den Augen. Aber die sinkende Sonne blendet sie kurz, und danach sieht sie den Teich nicht mehr. Sie hört Juhanis Ruf weit weg aus einer anderen Richtung. U-uui, U-uui.
Marja erstarrt. Vor sich hört sie das Weinen und Klagen toter Kinderseelen. Der Winter ist nah. Er ist im Anzug und kreist bereits unruhig und wütend im Schädel des Hechts. Bald wird der Hecht das Maul öffnen. Das U-uui kommt bereits aus sehr großer Entfernung.
Mataleena wacht vor den anderen auf, bleibt aber auf der Bank liegen und sieht sich um. Die Stube steht auf dem Kopf, die Wand mit der Tür ist der Fußboden, der Fußboden und die Decke sind Wände, und der Ofen ist an die Decke gemauert.
»Eines merkst du dir: Bettlern gibt man immer nur Milchsuppe. Dünne Milchsuppe«, sagt der Mann.
Mataleena lacht leise. Der Mann und die Frau sind Fliegen, die im Sommer in der Stube auf der Wand sitzen. Dann richtet sie sich auf, und die Stube gerät in ihre übliche Position. Der Mann und die Frau drehen sich zu ihr um.
»Das arme Kind«, seufzt die Frau.
Der Mann setzt sich neben Mataleena.
»Ich heiße Retrikki, und meine Frau heißt Hilta. Wir haben keine eigenen
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