Das Hungerjahr - Roman
Entfernung.
»Tot«, seufzt Hakmanni.
»Die Hure hat ihn umgebracht! Die Hure und ihr Helfershelfer«, kreischt die kleine, faltige Alte, aber ihre Worte fallen fruchtlos von den schwarzen Deckenbrettern herab.
»Halt den Mund, du verrücktes Weib. Um den muss es einen nicht leidtun. Man muss nur hingucken. Der hat mit runtergelassenen Hosen im Dunkeln gegrapscht. Dabei ist er gestolpert und mit dem Kopf auf den Holzscheit gefallen«, mischt sich ein Mann in der Ecke ein.
Hakmanni sieht den Mann an und richtet den Blick dann auf den Jungen, der das Holzscheit hält.
»Hat auf dem Boden gelegen. Ich hab’s aufgehoben, damit es nicht noch ein Unglück gibt«, sagt der Junge mit ruhiger Stimme.
»Du bist noch nicht mal ein Mann und begibst dich schon auf diesen Weg«, sagt Hakmanni eher traurig als verurteilend.
»Auf den Weg des Bettlers meinen Sie?«
»Du weißt, was ich meine. Schon um deiner eigenen Seele willen sollst du das wissen, denn auch du hast eine Seele. So wie dieser arme Mann hier eine Seele hat«, erwidert Hakmanni leise.
»Jetzt aber nicht mehr«, merkt der Mann in der Ecke an.
»Vielleicht nicht in diesem Leib, aber er bettelt jetzt um Gottes Gnade, so wie jeder von uns einst darum betteln wird.«
Hakmanni reicht dem Jungen das Licht und wendet sich an den Mann in der Ecke.
»Der Tote muss fortgeschafft werden, wir tragen ihn für die Nacht in den Holzschuppen.«
»Den schmeißen wir einfach auf den Hof. Bei der Kälte hält er sich.«
»Auch er war ein Mensch. Außerdem fressen ihn die Hunde, wenn man ihn unter freiem Himmel liegen lässt.«
Hakmanni und der Mann in der Ecke heben den Toten an, der Junge weist ihnen mit der Lampe den Weg.
»Morgen früh musst du weiter, mein Junge, du kannst nicht länger hierbleiben«, sagt Hakmanni zu ihm. Marja hört es, bevor die Tür zugeht.
Sobald die Lampe weg ist, herrscht wieder Dunkelheit im Raum.
»Bist du jetzt zufrieden, du Hure? Hast einen guten Mann umgebracht«, geifert die Alte.
»Halt dein verdammtes Maul, damit wenigstens die Kinder schlafen können, du verfluchte Hexe«, befiehlt eine weibliche Stimme.
Marja legt die Wange an Juhos Wange. Sie ist längst zu ausgetrocknet, um weinen zu können, aber die Träne auf Juhos Wange tröstet sie.
Vor Hakmannis Haus steht eine Frau mit vier Kindern. Eine kleine Greisin hinkt vom Holzschuppen her zu ihnen, und Marja hört, wie die Alte der Frau erklärt, eine Hure habe in der Nacht einen guten Mann umgebracht. Zuerst habe sie ihn verführt, und kaum habe sie ihr Geld bekommen, habe sie ihrem Helfershelfer das Zeichen gegeben, mit der Keule zuzuschlagen. Die vier Kinder versuchen sich hinter ihrer Mutter vor der Alten zu verstecken. Als Hakmanni aus dem Haus kommt, geht die Alte weiter, packt den nächsten Passanten am Ärmel und deutet auf Marja.
Hakmanni sieht Marja ernst an und drückt ihr ein Stück Brot in die Hand. Er rät ihr, das offizielle Armenhaus am anderen Ende der Stadt aufzusuchen, wo man Brot gegen Arbeit bekommt.
»Sofern sie Brot haben«, fügt er hinzu.
»Was muss man dort machen?«
»Särge.«
Marja entweicht ein freudloses Lachen, und Hakmanni erfasst das Groteske der Situation. Auf seinem Gesicht macht sich eine Miene breit, die zwischen einer Grimasse und einem um Nachsicht bittenden Lächeln liegt.
»Gott befohlen«, flüstert Hakmanni und schickt sich an, die neu eingetroffene Frau und ihre Kinder zum Armenhaus hinunterzuführen.
An der Ecke des Friedhofs schließt sich Marja der Junge von letzter Nacht an. Er ist fast einen Kopf größer als sie, dabei noch sehr jung.
»Ach du bist das. Ich habe gar keine Gelegenheit gehabt, mich bei dir zu bedanken.«
»Pah. Ich hatte sowieso Lust, zuzuschlagen, bloß hatte ich vorher noch keine Gelegenheit dazu.«
»Wie heißt du?«
»Ruuni.«
»Was ist denn das für ein Name? So einen schreibt man doch in keine Kirchenbücher«, lacht Marja.
»Steht denn überhaupt noch jemand von uns in den Büchern, aus denen am Himmelstor die Namen aufgerufen werden? Es ist egal, mit welchem Namen einer betteln geht. Der Name, den mir der Pfarrer gegeben hat, bedeutet mir nichts, weil der Hirte sich um sein Lamm nicht viel geschert hat. Ich habe mir selbst einen Namen gegeben, und jetzt bin ich mein eigener Herr.«
»Fürchtest du nicht um deine Seele, so wie Hakmanni gesagt hat?«
»Es rettet dich nicht, wenn der Pfarrer dich beim Namen nennt. Gibst du mir was von dem Brotkanten ab, den das Schaf dir gegeben hat?«, fragt
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