Das Hungerjahr - Roman
Albtraum wegzuatmen, aber es dauert lange, bis die Bilder sie in Ruhe lassen. Dann rüttelt sie Ruuni wach.
»Wir müssen weiter. Es ist zu kalt, um die ganze Nacht hier zu schlafen, bald bricht schon die Dämmerung an.«
Ruuni wird nur widerwillig wach. Aber als er die Augen einen Spaltbreit öffnet, schießt ihm die Kälte entgegen. Sobald er sie wieder schließt, reißt ihn etwas tief in die trügerische Wärme des Schlafs. Aber Marja zwingt ihn und Juho auf die Beine.
Die Schatten werden länger, sie breiten sich in der Landschaft aus und schlucken sie bald. Der Schnee ist tief, Ruuni und Marja tragen Juho abwechselnd. Marja versucht Sankt Petersburg in ihrem Inneren zu bewahren, aber die Stadt schrumpft, um sie herum wachsen eine verschneite Ebene und finsterer Wald, der schließlich den Blick auf die weit in die Ferne weichenden Paläste verstellt.
Am Ende haben sie nur noch eine weiße Wegspur vor sich, die sich zwischen düsteren Fichten hindurchschlängelt. Der Schnee sorgt für grausames Licht; wie aus Boshaftigkeit enthüllt es einen Weg, der nicht kürzer wird, wenn man ihn geht, bis hinter einer Kurve unvermittelt ein zugefrorener, schmaler Fluss auftaucht. Eine Holzbrücke führt darüber, am anderen Ufer kann man eine Mühle erkennen.
Ohne anzuklopfen, drückt Ruuni die Tür des Mühlenhauses auf. Die Stube ist klein. Auf der Chaiselongue röchelt der Müller vor sich hin. Das Bett ist zu kurz für ihn, er liegt seltsam gekrümmt da. Das schwache Licht zeichnet tiefe Schatten auf sein totenblasses Gesicht. Er dreht den Kopf zur Tür, sieht die Ankömmlinge mit leeren Augen an.
»Er hat die Pusteln«, kommt es aus der Ecke.
Marja erblickt eine grauhaarige Frau. Sie hat sich einen großen Wollstrumpf, dessen Maschen vorne aufgehen, über den Kopf gezogen. Darunter quellen die Haare hervor. Marja schaut auf den Fuß des Müllers, er ist groß. Der Müller ist ein hochgewachsener Mann. Er war es, ist es aber nicht mehr.
»Tür zu!«, kommandiert die Frau. »Habt ihr sonst keinen Ort, wo ihr hingehen könnt? Die Krankheit steckt nicht unbedingt an, wenn ihr nicht zu nah herangeht, aber die Kälte bringt euch sicher um, wenn ihr in die Nacht hinaus flieht.«
Sie verspricht nur Juho etwas zu essen. In der Stube ist es düster, sonderbares Licht flackert im offenen Ofen. Die Frau scheint mal im Dunkeln zu verschwinden, mal wieder in der Ecke zu erscheinen, wenn das rote Licht der Glut in ihre Richtung flackert.
An der Decke hängen überall getrocknete Garben. Die Frau steht mühsam auf, knickt von einer Garbe einen Halm ab und zerreibt ihn in Holzschalen, die sie dann mit heißem Wasser aus dem Topf auffüllt. Sie schiebt Ruuni und Marja die Schalen hin. Ruuni zögert, worauf die Frau düster lacht.
»Ich wusste, dass es so kommt, weil vor zwei Herbsten ein weißer Kolkrabe auf der Mühle gesessen hat«, sagt sie und sieht die Gäste stechend an.
»Die ist verrückt«, flüstert Ruuni Marja zu.
Darauf schlägt die Frau mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch, die schwarzen Augen flammen auf. Wieder bricht sie in ihr düsteres Lachen aus.
»Und wenn schon, wer wäre das nicht in diesen Zeiten. Bald tobt auch die Krankheit hier schon das zweite Jahr. Sogar bei alten Kerlen kommt der Eiter und sie sterben fast daran, kriegen wochenlang die Augen nicht auf. Und bleiben einäugig. Bei dem da ist der ganze Leib voll Grind und Schorf, das macht einen verrückt. Gottes Strafe ist das, wegen der Schlechtigkeit des Menschen, sagt der Pfarrer.«
Sie schaut auf den röchelnden Müller, richtet dann den Blick nach oben, durch die Deckenbalken und die düsteren Wolken, die sich über dem Haus ballen, hindurch bis ins Himmelreich hinein, und ihr Blick ist erfüllt von brennender Anklage.
»Was hat dieser Mann dir Böses getan? Ich steche dir, Satan, die Augen aus, wo du die Not hier ja doch nicht siehst!«
Marja zuckt von dem Donnerschlag der Frau zusammen und ist sicher, dass es Gott auf seinem Thron ebenso ergeht und er sich nun verlegen besser hinsetzt.
»Haa!«, brüllt der Müller von seinem Bett aus und versucht die Faust zu heben, aber sie fällt kraftlos wieder auf die Bettdecke.
Die Frau starrt nun auf den Tisch und kratzt mit ihren schwarzen Nägeln am Holz. Marja sieht, wie die Frau ihre eigenen Finger beobachtet, als erwarte sie, dass sich unter ihnen ein gepflügter Acker auftue und große, goldgelbe Kartoffeln in der Furche hochkämen. Stattdessen zieht sie sich einen Splitter unterm Nagel zu
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