Das Hungerjahr - Roman
Spalt neben dem Türrahmen steckt. Sie zieht sie heraus, wählt von den Tieren dasjenige, das am gesündesten aussieht, und ritzt ihm eine kleine Wunde in den Hals. Die Kuh brüllt kurz und gedämpft auf. Marja leckt an der Wunde und fängt an, Blut zu saugen. Wieder brüllt die Kuh und versetzt Marja einen Stoß. Marja fällt hin, bleibt auf dem Boden liegen und versucht sich die Tränen von der Wange zu lecken, aber es kommen keine Tränen.
»Mutter, wärme mich«, bittet Juho.
Marja schleppt sich zu dem Jungen, kriecht neben ihn unter die Pferdedecke und schläft ein. Sie hat einen Traum, in dem es sie nicht gibt. Einen Traum, in dem es keinen Traum gibt, sondern nichts als unbestimmte, farblose Dunkelheit.
Schließlich wird Marja inmitten der Dunkelheit neu geboren. Zuerst ist sie nur eine Spiegelung auf dem Wasser, dann erfüllen die Sinne das Spiegelbild mit ihrer Gnadenlosigkeit. Langsam geht die Dunkelheit in einen Raum über, der als Viehstall zu erkennen ist. Fahles Licht strömt durch die offene Tür und verdichtet sich zu einer Frau, die sich nach der blutigen Schafschere bückt und sie nach Marja schleudert.
»Was für eine Abgesandte des Teufels bist du eigentlich?«
In ihren Augen glüht kalter Hass. Marja befreit sich von der Pferdedecke und stolpert mit Juho im Schlepptau aus dem Stall. Die Frau folgt ihr mit dem Melkeimer. Auf dem Hof ruft der Mann nach dem Hund, der nirgendwo zu sehen ist.
»Deine Hure hat der Kuh Blut abgezapft!«
Der Mann stürzt sich auf Marja, wirft sie unter sich auf die Erde und reibt ihr Schnee ins Gesicht. »Ich bring dich um! Ich bring dich um!« Er drückt ihr die kalte Handfläche ins Gesicht. Marja hört Juho schreien, zwischen den Fingern des Mannes hindurch sieht sie, wie die Frau mit dem Melkeimer zum Schlag ausholt. Man hört einen dumpfen Aufprall, die Hand auf Marjas Gesicht gibt nach, der Mann fällt von ihr ab.
Marja packt Juho an der Schulter und stolpert mit ihm den Hang hinunter. Erst unten wagt sie es, sich umzublicken. Sie sieht die Frau mit dem Melkeimer auf den gekrümmten Mann einschlagen.
Juho zieht seine Mutter aus dem Schnee hoch. Keuchend stapft Marja weiter. Der schneidende Wind schält Schnee vom Feld und schleudert ihn umher, er kann sich nicht entscheiden, aus welcher Richtung er die Wanderer angreifen soll.
Vorne sieht man eine Brücke, den Weg in eine andere Welt, eine ebenso weiße, die Brücke, sie ist nur ein schwarzer Punkt in der Landschaft.
Auf einmal fällt Marjas Blick auf den schneebedeckten Kadaver eines Hundes am Straßenrand. Der Schneeschleier ist dünn, der Hund liegt noch nicht lange dort. Ihm ist die Flanke aufgerissen worden, in der klaffenden Wunde sieht man seltsam graue Eingeweide. Mit den Zähnen ist der Hund gerissen worden, und Marja weiß nicht, ob die kalten Schauder von dem grotesken Anblick oder von dem kalten Wind rühren. Es ist der Hund, der sie gestern vor dem Haus angebellt hat.
Marja betritt die Brücke. Sie nimmt Juho auf den Arm und drückt ihn so fest an sich, wie es ihre Kraftlosigkeit erlaubt. Die Brücke ist eine gierige Zunge, bereit, den Wanderer in den Rachen des Winters zu befördern, um dessen unstillbaren, endlosen Hunger zu stillen.
Nun entscheidet sich der Wind doch für eine Richtung und stößt Marja über die Brücke. Unter ihren Füßen wirbelt der Schnee, nicht unter der Brücke fließt ein Strom, sondern über sie hinweg, auf die Schneeebene am anderen Ufer zu, wo die Straße verschwindet.
In der Ferne sieht Marja am Rand der Ebene Bäume stehen; sie verwandeln sich in die Schattenbilder der Türme und Paläste der Zarenstadt. Flatternd weichen sie ins Nichts zurück, und diesem Nichts schleppt sich Marja entgegen, mit Juho auf dem Arm. Auf dem Wipfel der größten Fichte lässt sich der Zar höchstselbst nieder, jedoch als Tod verkleidet, als schwarzer Kolkrabe.
Als sie die Brücke überquert hat, sieht Marja die Leiche. Sie liegt in Embryohaltung da, das Gesicht trotzdem dem Himmel zugewandt, der Mund zu einer ewigen Grimasse geöffnet. Als hätte der Sterbende im letzten Augenblick begriffen, dass der Schoß, in den er sich gelegt hat, um auf eine neue Geburt zu warten, der trostlose Schoß dieses unfruchtbaren Winters ist.
Die für den schmalen Kopf viel zu großen Ohren lassen den Toten wie eine erfrorene Fledermaus aussehen. Die langen Finger umklammern noch immer verzweifelt die Knie. Marja beugt sich dicht über Ruunis Gesicht. Es dauert, bis sie erfasst, dass es
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