Das Hungerjahr - Roman
mal auf den Schnee, doch nie ins Gesicht.
Noch ist von der kurzen Tageshelligkeit etwas übrig. Mitten auf dem Feld steht eine Scheune, und Ruuni schlägt vor, dort kurz zu rasten und den Proviant zu verzehren.
»Was für Proviant sollen wir denn haben?«, wundert sich Marja.
Ruuni zieht ein Brot unter dem Mantel hervor.
»Hast du das gestohlen?«, entsetzt sich Marja.
»Und ob ich das gestohlen habe.«
Die Wände der Scheune haben breite Lücken, aber drinnen liegt ein wenig Heu. Marja fragt sich, ob man hier übernachten könnte.
Ruuni teilt das Brot durch drei und gibt Juho das kleinste Stück.
»Wie bist du denn zum Betteln gekommen?«, fragt Marja.
»Der Vaasko-Bauer hat mich auf die Straße gesetzt, sobald ihm selbst der Magen geknurrt hat. Dieser feiste, gierige Kerl. Der muss den Hunger nur aus dem Augenwinkel sehen, da muss sofort was zu essen her. Hat sich wohl ausgerechnet, dass er sich nicht einschränken muss, wenn er die Knechte auf die Straße setzt. Obwohl das bei seinem Bauch nicht schaden würde.«
»Bist du Waise?«
»Die Mutter ist in der Werkstätte am Typhus gestorben. Das war schon im Frühjahr, seitdem bin ich unterwegs. Es hilft nichts, an Ort und Stelle zu bleiben. Und wenn man kein Kindchen mit großen Augen mehr ist, muss man das Stehlen lernen. Mit einem wie mir hat niemand Mitleid, und ein Kind, das ich beim Betteln herzeigen könnte, hab ich mir noch nicht angeschafft. Du könntest mir den Juho mal ausborgen, mit dem würde ich leben wie die besseren Leute. Euch geben wahrscheinlich alle gleich unter Tränen Brot, sobald ihr vor der Tür steht.«
»So einfach ist das auch nicht«, sagt Marja und denkt an Mataleena.
Ruuni sieht Marja an, dass sie außer dem Brot auch Tränen schluckt. Er legt ihr die Hand auf die Schulter. Marja legt ihre Hand auf seine Hand und drückt leicht zu. Für einen Augenblick hat sie das Gefühl, als gehörten alle Bettler dieser Welt zu einer Familie, als empfänden sie den gleichen Schmerz, als trauerten sie alle um Mataleena und teilten Marjas Last.
Juho, Marja und Ruuni rollen sich im wenigen Heu zum Schlafen zusammen, dicht an dicht, wie junge Mäuse in ihrem Nest. Marja streichelt Ruunis Ohren, die vom Kopf abstehen wie die Flügel eines Vogeljungen, das gerade fliegen lernt. Man kann sich den Jungen mit den abstehenden Ohren schlecht als Gerippe vorstellen, obwohl sein Gesicht vom Hunger ausgezehrt ist und die Augen schwarz umrändert tief in den Höhlen liegen. Juho und Ruuni schnarchen bereits leise. Auch Marja schließt die Augen.
Marja steht vom Heu auf. Die Lücken zwischen den Wandbrettern der Scheune sind noch größer geworden. Der Wind seufzt heiser wie ein Lungenkranker. Durch die Wand sieht Marja weit draußen auf dem Feld eine Gestalt mit drei Beinen näher kommen. Plötzlich erkennt sie ihn als den Mann, den Ruuni erschlagen hat.
Der Mann geht ohne Hose durch den Schnee, zwischen seinen Beinen hängt ein langes Geschlecht, wie ein riesiger Eiszapfen. Er pflügt eine Furche in den gefrorenen Acker, aus der rotes Blut hervorsickert.
Marja entsetzt sich, drückt sich an die Wand und hofft, dass der Mann sie nicht sieht. Er will sich schon vorbeischleppen, da bleibt er plötzlich stehen und starrt mit toten Augen auf die Scheune. Die Zunge hängt grässlich aus dem Mund. Und in den Augen glüht etwas, das Marja vor Entsetzen lähmt.
Bis sie auf einmal begreift, dass es Juhani ist. Ihr Juhani. Aber die Erleichterung dauert nur einen Augenblick, denn Juhanis Augen sind Schneebälle, die im Wind zerfallen, sodass nur die schwarzen Höhlen zurückbleiben. Dann weht der raue Wind Juhani als Schnee davon, und Marjas Liebster zerstiebt über dem weißen Feld. Voller Angst blickt sie auf Juho im Heu. Aber das ist gar nicht Juho, sondern Ruuni, mit dem sie gerade geschlafen hat.
Und doch ist es Juho, es gibt gar keinen Ruuni, sondern ihr kleiner Juho ist unbemerkt gewachsen, und Marja hat ihn irrtümlich für einen Mann gehalten. Sie brüllt, aber es kommt kein Schrei heraus, denn eine unsichtbare Hand drückt ihn in den Mund zurück, der Mund bleibt offen, Marja bekommt keine Luft.
Sie begreift, dass die Scheune dieselbe ist, in der sie Mataleena zurückgelassen hat, und als sie sich umdreht, sieht sie Mataleena schneeweiß neben sich auf dem grauen Leichenbrett liegen.
Marja fährt hoch und schnappt nach Luft. Von allen Seiten drängt die Kälte in den Körper. Da liegt Juho neben ihr und dicht neben ihm Ruuni. Marja versucht den
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