Das Hungerjahr - Roman
und beruhigt sich, während sie ihn herauszieht.
»Hier ist den ganzen Herbst nicht viel mehr als Tierknochen gemahlen worden. Kein einziges Korn, nur abgenagte Knochen. Manchmal denk ich, wenn der da das Zeitliche segnet, mahle ich auch seine Knochen zu feinem Mehl. Und mich selbst zwänge ich mit Hexerei auch zwischen die Mühlsteine. Die Tür und die Fenster lasse ich offen stehen, damit der Wind alles mitnimmt. Damit von uns keine Spur auf der Welt zurückbleibt. Als hätten wir nie gelebt. Ein Mann, der sein Leben lang gearbeitet hat, und dann muss er so ein Ende erleiden.«
Plötzlich steht die Frau auf und kommandiert die Bettler zum Schlafen ins Gästebett der Mühle. Sie selbst drängt sich an die Seite des Müllers und streckt sich neben ihm auf der engen Chaiselongue aus. Die Glut im Ofen brennt noch ungewöhnlich lange.
Juho bleibt nicht mehr wach. Wieder tragen Marja und Ruuni ihn abwechselnd. Der Wind schlägt ihnen als glitschige Kälte entgegen, ordentliche Minusgrade wären besser. Die Schlange hat die Überhand gewonnen, sie schlingt sich um die Wanderer, setzt zwischen den Bäumen zum Angriff an, verzichtet am Ende aber auf den Gnadenstoß. Nach einer scheinbar endlos langen Wegstrecke sieht Marja auf einem Hügel ein Haus, und die Schlange zieht sich zurück, um auf freiem Feld abzuwarten, bis die Reise weitergeht.
Auf dem Hof kläfft ein dürrer Hund. Er zeigt die Zähne, aber Ruuni hält zähnefletschend dagegen.
»Weg mit euch! Schert euch dahin, wo ihr herkommt!«
Ein großer Mann mit hängendem Schnurrbart hat die Haustür aufgerissen. Er ist hemdsärmelig, aus der erhobenen Faust ragt ein langer Finger, der auf das Feld zeigt. Dasjenige, auf dem sich Marjas Schlange gerade niedergelassen hat. Sie hat Zeit zu warten, Marja nicht.
»Das Kind kann nicht mehr, habt Erbarmen«, fleht Marja.
Eine dünne Frau kommt aus dem Stall. Sie tritt zu Marja, die Juho auf dem Arm hält, ergreift das Kinn des Jungen und dreht seinen Kopf, bis sie die Augen sieht.
»Habt ihr Krankheiten?«
»Nein, aber das Kind ist völlig erschöpft, es hat Hunger und friert …«
»Man kann es nicht auf die Straße jagen, in die Nacht hinein«, sagt die Frau zu ihrem Mann, der auf der Treppe steht.
»Der andere ist schon ein ausgewachsener Mann, den lasse ich nicht rein. Der ist ein Dieb, das sehe ich gleich.«
»Du kannst mit dem Kind über Nacht bleiben. Morgen früh geht ihr weiter ins Dorf, ob ihr könnt oder nicht. Der da darf auf der Stelle gehen, wenn er sich beeilt, schafft er es noch, bevor es ganz dunkel wird«, sagt die Frau hochmütig.
»Es ist doch schon bald dunkel«, klagt Ruuni.
»Dann gehst du halt blind, das ist mir egal. So weit ist es bis ins Dorf nicht.«
»Gibt es hier noch andere Häuser, wo man es versuchen könnte?«, fragt Marja.
»Nein. Wenn es welche gäbe, hätte ich euch längst weitergeschickt. Am nächsten ist das Dorf, der Junge kann es dort probieren. Wenn er stiehlt, muss er selbst dafür geradestehen. Ihr werdet es aber nicht bis dahin schaffen.«
»Ich gehe. Ich warte im Dorf auf euch«, sagt Ruuni.
Marja wendet sich ihm zu, um ihn zum Abschied zu umarmen, aber er ist schon auf dem Weg den Hang hinunter.
Marja folgt mit Juho auf dem Arm dem Mann und der Frau ins Haus. Durchs Fenster sieht sie Ruuni am Fuß des Hügels stehen. Seine Schultern hängen herab, die Windstöße schleudern ihn hin und her wie eine kleine Birke. Der dürre Hund ist ihm ein Stück gefolgt und kläfft auf der Mitte des Hangs, wo ein lichter Kiefernwald beginnt.
»Mutter?«
Die Stimme kommt aus einer dunklen Ecke. Als sich Marjas Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sieht sie einen Jungen auf der Bank neben dem Ofen sitzen. Er ist in Ruunis Alter.
»Hier«, antwortet die Frau.
»Wer ist gekommen?«
»Besuch. Kennst du nicht.«
Der Junge schaut an Marja vorbei, als stünde jemand neben ihr. Er ist blind, begreift sie.
»Leg dich schlafen«, sagt der Mann zu dem Jungen.
Dieser steht auf und steigt auf die Ofenbank. Als der Mann einen Span anzündet, sieht Marja das Gesicht des Jungen. Wieder schaut er an ihr vorbei, und Marja kann nicht anders, als sich zu vergewissern, ob da nicht doch noch jemand sitzt.
Der Hausherr nimmt am Kopfende des Tisches Platz, starrt Marja mit gesenktem Kopf von unten heraus an und bläst in seinen Schnurrbart. Er hat etwas Lebloses an sich, als keuchte der Wind aus ihm heraus und in ihn hinein und bewegte die Flechten an einem Fichtenzweig. Die Frau macht
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