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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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Ruuni.
    »Ich wollte ihn Juho geben.«
    »Gibst du mir was ab, Juho?«, fragt Ruuni und beugt sich zu dem Kind herab.
    Marja lacht und holt das Stück Brot aus der Tasche. Ruuni versucht Juho zu unterhalten, indem er ihm vorführt, wie er sich den Daumen abreißt, aber Juho starrt nur ernst auf den frei beweglichen Finger und versteht nicht, was daran so erstaunlich sein soll. Sie setzen sich auf die Treppe des Gemeindespeichers, und Marja teilt das Stück Brot in drei Teile.
    »Richtig mit Rindenmehl. Der ist ein Fuchs, der Schattenpfaffe«, meint Ruuni. Er bestaunt das Brot und lutscht schließlich seufzend daran.
    »Hast du vor, ins Armenhaus zu gehen und Särge zu machen?«, fragt Marja, und Ruuni schüttelt den Kopf.
    »Weißt du, ich frag dich nicht nach deinem Namen. Am Ende der Straße, auf der wir jetzt gehen, wartet das Massengrab. Und an so einem ruft der Pfarrer keine Namen auf. Wenn man am Jüngsten Tag aus so einem Massengrab gekrochen kommt, weiß man nicht mehr, wessen Knochen man unterwegs an sich gerafft hat. Selbst wenn einer einen noch so vornehmen Namen hat und zum Beispiel Viljaami heißt, kann es sein, dass er mit dem Oberschenkelknochen von einen stinknormalen Jussi aufsteht. Ist er dann noch Viljaami oder schon Jussi? Der Teufel darf das Los werfen, ob einer rauf und einer runter soll. Der ganze Verein ein und derselbe Knochenhaufen. Und heute ist es nicht viel anders. Das alles hier ist ein großes Massengrab. Wie will man da einen Unterschied erkennen, wenn alle wie Gerippe aussehen?«
    Juho kichert, und das bereitet Marja gute Laune.
    »Einige von den Herrschaften stehen jedenfalls besser im Fleisch«, merkt sie an.
    »Die kommen auch in den Himmel, weil sie immer ›Herrgott‹ seufzen, auch die dünneren. Wir anderen rufen eher den Teufel an, die Herren ihren Gott. Außer der Bauer von Vaasko, der flucht in Satans Namen auf Magd und Knecht, aber so einen halst sich der Teufel gar nicht erst auf. Der würde noch in die Hölle seine Befehle brüllen, dass der Teufel mit den gepeinigten Seelen Mitleid bekommt. Drum schlüpft er zur Himmelspforte rein, der alte Vaasko.«
    Die Geschichten des Jungen amüsieren Marja. Er hat gut zugehört, was die Männer reden und tut wichtig wie ein Knecht von einem großen Hof. Wenn Tanz ist, sitzen sie mit dem Mützenschild über den Augen am Rand, verschränken die Hände im Nacken und zerreißen sich das Maul über Bauern, Bäuerinnen und die Ärsche der Mägde. Am nächsten Morgen stehen sie dann mit der Mütze in der Hand wie bei der Katechismusprüfung da und hören sich den Tadel ihres Herrn, den sie gerade noch geschmäht haben, an, weil das Pferd falsch eingespannt ist oder die Sense schlecht gedengelt.
    Juho kichert noch immer. Sein Kichern pflügt eine Schneise in die graue Hoffnungslosigkeit. Und dahinter tut sich nicht der weiße Tod auf, sondern das gelbgrüne, frühlingshafte Sankt Petersburg. Die Stadt des Zaren erhebt sich in der vom Hunger ausgezehrten Leere, die eine knochige kalte Hand in Marjas Bauch umschließt. Jetzt gibt die Faust ein wenig nach und gibt eine gepflasterte Straße frei, an der schöne, grünende Birken stehen. Dort geht Marja mit Juho an der Hand entlang. Sie betreten einen Laden, kaufen Brot, der dicke Kaufmann lächelt, das ist aber ein properer Junge, lobt er Juho, aus dem Hinterzimmer schaut das lächelnde Gesicht der Kaufmannsfrau heraus, und wie proper er ist, und der Kaufmann gibt Juho eine Brezel.
    »Sag mir trotzdem, wie du heißt. Dann kann ich an der Himmelspforte ein gutes Wort für dich einlegen, weil ich ja doch früher dort bin«, unterbricht Ruuni Marjas Gedanken.
    »Marja heiße ich. Und du wirst noch nicht in den Himmel kommen. Aber ich kann beim Zaren für dich sprechen, wenn ich nach Sankt Petersburg komme.«
    »Oho! Dagegen kommt Gott nicht an. Gehen wir zusammen weiter, ich könnte in Sankt Petersburg Soldat werden. Wartet hier einen Moment, ich muss nur erst was erledigen«, sagt Ruuni und verschwindet sogleich hinter dem Speicher.
    Außerhalb der Stadt werden sie von einem alten Mann auf dem Schlitten mitgenommen. Sie fahren schweigend dahin, nur der Schnee kracht traurig unter den Schlittenkufen. Auf offenem Feld hält der Bauer an.
    »Hier steigt ihr ab. Ihr geht durch die Furche da über das Feld, dort kommt eine Siedlung«, sagt er, und Marja begreift, dass der Mann ihnen kein Nachtlager anbieten will.
    Sie versucht dem alten Mann in die Augen zu schauen, aber der blickt mal übers Feld,

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