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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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wirklich Ruuni ist. Die Augen sind nicht mehr da, die hat der Zar geholt, der nun auf dem Wipfel der großen Fichte sitzt und ihnen sein Reich zeigt. Da habt ihr euer Sankt Petersburg: eine verschneite Ebene, mehr kann ich euch nicht bieten.
    Als sie auf den offenen Mund des Jungen starrt, bemerkt Marja, dass zwischen den Zähnen Fell und Fleisch des Hundes hängen geblieben sind.
    Sanft drückt sie die Lippen auf Ruunis Lippen. Sie spürt die Kälte des Todes und atmet sie ein, während sie den toten Jungen küsst.
    Ein Windstoß weht den dünnen Schneeschleier von der Leiche. Etwas zwingt Marja aufzustehen und weiterzugehen, aber nach wenigen Schritten erlahmen ihre Kräfte. Sie erstarrt auf der Stelle. Aus der Tiefe ihres leeren Bauchs steigt abgrundtiefes Bedauern auf. Sie versucht sich die Farben des Lebens auf Ruunis Gesicht vorzustellen, sieht aber nur die von der Kälte rissigen, bläulich weißen Ohren.
    Das Bedauern verdickt sich zur Trauer. Die Trauer erfüllt den ganzen Körper, verwandelt Marja in ein Fass, gefüllt mit schwerem Wasser, das gegen die Dauben drückt, die nicht mehr standhalten. Tief im Trauerwasser träumen Mataleena und Juhani. Marja macht ein paar zögernde Schritte vorwärts, dann versagen die Ringe, die das Fass zusammenhalten.
    Das Wasser schießt in alle Richtungen, es macht die Füße nass und saugt sich an den Beinen entlang nach oben, bis Marja nichts als ein feuchtes, vom Wasser schweres, schmutziges Laken ist. Dann kristallisiert die Feuchtigkeit zu feinem Schnee, der Wind fährt hindurch, und Marja löst sich im Schneegestöber auf. Die Verwehungen begraben Mataleena auf dem Leichenbrett unter sich. Marja ruft Juhani zu Hilfe, aber ihre Stimme ist nur ein Röcheln. Juhani ist als Schwan an der letzten offenen Stelle des Sees festgefroren und kann nicht fliegen, sondern legt den Kopf auf den Rand des Eises und gleitet langsam ins schwarze Wasser, und dann schließt sich das letzte Loch im Eis.
    Marja spürt, wie ihr Körper zusammenfällt. Der Griff um Juhos Hand löst sich. Das Fallen dauert eine Ewigkeit, Marja sieht dabei, wie alles sich in ein unendliches Schneefeld verwandelt.
    Dann endet die Ewigkeit. Die Erde empfängt sie nicht sanft, sondern erbarmungslose Kälte erwartet sie, immerwährender Schnee, der in einer Wolke aufstiebt, als Marja schließlich zusammenbricht.
    Die Farbe des Todes ist weiß. Sein Schlitten hält neben Marja an. Der Tod selbst sitzt auf dem Bock, auch der Zar ist vom Baum herabgekommen und hat sich zu ihm gesetzt. Der Schlitten verschwindet, es folgt weiße Finsternis, die alles unter sich begräbt.
    »Mutter …«
    Das ist Juho. Dann ist da nichts mehr.

DER SENATOR
    A uf der Straße hallt das Bellen eines einzelnen Hundes, das sich bis zum Heulen steigert. Etwas weiter weg, in Richtung Kamppi, gesellt sich ein zweiter Hund dazu. Der Senator geht zögerlich die Yrjönkatu hinauf. Vor seinem Haus bleibt er stehen und betrachtet die dunklen Fenster.
    Ein dritter Hund stimmt in das Konzert ein, das trostlose Heulen steigt an und fällt ab, wie eine Welle, die am Ufer stirbt und sich im Sand verliert, um Platz für eine neue zu machen. Der Mond hat den Himmel erklommen, gegen sein Licht sieht der Senator den eigenen Atem. Er ist allein, seine Unterstützer im Senat haben sich entfernt. Adlerberg wird seinen Willen durchsetzen, und man wird damit beginnen, die Bahnlinie nach Sankt Petersburg zu bauen. Dafür nimmt man Schulden auf, die dem Staatshaushalt noch teuer zu stehen kommen werden.
    Das Haus wirkt verlassen, die Schatten der dunklen Vorhänge betonen die Leere zusätzlich. Niemand ist wach, jetzt, da er jemanden bräuchte, mit dem er reden könnte.
    In den letzten Monaten ist er jede Nacht seiner Frau auf halbem Weg entgegengegangen - und jeden Morgen alleine aufgewacht, wieder am Anfang des Weges. Und abends, wenn er die Augen schließt, sieht er Jeanette, die im Bett liegt, sich krümmt, versucht, das Kind, das als Frühgeburt zur Welt kommt, herauszupressen, während sich das Bett über und über mit Blut füllt. Er selbst steht ratlos daneben, die Leiche der zweijährigen Magdalena auf dem Arm. Die kleine, süße Magdalena müsste begraben werden, und jetzt lässt ihn auch Jeanette im Stich und nimmt das winzige Neugeborene mit.
    Solche Träume peinigten ihn vor zehn Jahren, und nun sind sie wiedergekehrt. Eine Frostnacht Anfang September hat sie zurückgebracht. Danach war klar, dass dieser Winter für das Land eine Katastrophe sein

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