Das Hungerjahr - Roman
würde.
Und Ende Oktober war Adlerberg zurückgekehrt, um das Amt des Generalgouverneurs zu übernehmen. Mit Indrenius war der Senator gut ausgekommen, Indrenius hatte ihn machen lassen. Aber Adlerberg hatte ihm die Zügel aus der Hand genommen und lenkte den Wagen nun selbst, verantwortungslos wie ein Gauner auf einer Dorfstraße in Ostbottnien.
Der Eisenbahnbau wird teuer, der Kredit, der mit den Deutschen dafür ausgehandelt worden ist, bringt den Staat an den Rand des Ruins. Außerdem benötigt man für den Bau der Strecke unerhört viele Leute. Hungrige Menschen müssen aus ihrer Heimat herausgerissen und zu den Baustellen gebracht werden. Es ist klar, dass sich dort Krankheiten verbreiten werden. Viele werden sterben.
Im Haus geht Licht an, es ist also doch noch jemand wach. Der Senator tritt durchs Tor. Die Hauswirtschafterin kommt aus der Küche, als sie Geräusche in der Eingangshalle hört.
Der Senator zündet die Tischlampe im Empfangszimmer an, dreht die Flamme herunter, sodass sie gerade die zwei Sessel und die kleinen Porträts in der Wandnische beleuchten.
»Ist die Fleischerrechnung beglichen?«
»Hanna ist ein gutes Mädchen, sie sorgt dafür, dass alles pünktlich vonstatten geht. Sie müssen sich darüber keine Gedanken machen.«
»Gut. Du kannst schlafen gehen, Ulrika, ich bleibe noch ein Weilchen auf.«
Ulrika wünscht Gute Nacht und entfernt sich.
Der Senator geht im halb dunklen Zimmer auf und ab, rückt aus alter Gewohnheit die Falten der Vorhänge zurecht. Er hat sie selbst aufgehängt, als Jeanette noch lebte.
Nachdem er sich etwas eingeschenkt hat, setzt er sich in einen der beiden Sessel und starrt auf den leeren Sessel gegenüber. Würde dort nur ein alter Freund sitzen, mit dem er sich über den Lauf der Welt unterhalten könnte.
Der Senator dreht die Flamme der Lampe höher, sodass die Bilder an der Wand gut zu sehen sind. Er betrachtet Jeannettes Gesicht, studiert es wieder von neuem, damit es in seiner Vorstellung nie verblasst. Diese ernste Miene und die dunklen Augen, die auf anmutige Weise ein kleines bisschen schielen.
Eine Wolke verhüllt den Mond, die Yrjönkatu liegt dunkel da. Der Senator öffnet den Vorhang einen Spaltbreit und sieht sein eigenes Spiegelbild im Fenster. Er zieht an seiner Pfeife, im Schein der Glut flimmert das Gesicht kurz, zwischen den Augen ist eine tiefe Falte zu erkennen.
Die Menschen scheinen sich sehr für Einzelheiten zu interessieren, denkt er. Wichtiger ist es jedoch, das große Ganze zu sehen. Nur im Gesamtbild erhalten die Einzelheiten ihre Bedeutung. Ansonsten bleiben sie in der Luft hängen, geradeso, als wäre die Stirnfalte nur ein Kratzer auf der Fensterscheibe.
JUHOS BUCH
Z uerst stürzt das Kind. Ihm gelingt es noch, sich wieder auf den Knien abzustützen, aber als die Frau zusammenbricht, zerfällt sie geradezu im Schnee. Teo befiehlt dem Fuhrmann, anzuhalten. Fluchend zerrt der Mann an den Zügeln.
Die Frau ist bereits tot. Teo nimmt die Pelzmütze ab, kniet sich hin, legt die Wange auf den Schnee neben dem Gesicht der Frau und schaut in ihre Augen. Es liegt ein blasser Schleier über ihnen, als wäre eine Gardine am Fenster zugezogen worden, und hinter dem Schleier liegt trostlose Leere, wie man sie immer sieht, wenn man einem Toten in die Augen schaut. Teo versucht noch ein letztes, versiegendes Flämmchen im Blick der Frau zu erkennen, aber er sieht es nicht. Es ist auf den Jungen übergegangen, und ohne dieses geliehene Licht würde der Junge nicht mehr lange überleben.
Der Fuhrmann von der Poststation sagt, das seien keine Leute aus der Gegend.
»Was soll man mit ihnen tun?«, fragt Teo.
Der Fuhrmann meint, das sei Teos Sorge, wenn er vorhabe, etwas zu unternehmen. Er selbst würde die Beiden lassen, wo sie sind, den Jungen bei seiner Mutter, er komme ja doch nicht durch.
Teo nimmt den Jungen auf den Arm und trägt ihn zum Schlitten. Er trennt ihn von der Mutter. Das heißt, das hat der Tod bereits getan, Teo versucht nur, den Tod daran zu hindern, seinen Fehler zu korrigieren.
Erst nach einer Weile blickt der Junge nach hinten, erst da begreift er, was geschehen ist, und flüstert: Mutter. Die Frau bleibt mitten auf dem offenen Feld liegen, der Schnee deckt sie sanft zu. Als der Schlitten den Waldrand erreicht, ist die Frau im Schnee schon nicht mehr zu erkennen, wenn man nicht weiß, wo sie liegt.
Wenn der Junge einschläft, wacht er nicht mehr auf. Vielleicht war der Fuhrmann doch klüger, denkt Teo,
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