Das Hungerjahr - Roman
einem Albtraum erwachen und nach seiner Mutter rufen, ohne zu wissen, wen er ruft.
»Bei besserem Wetter kann man dort die Kirche sehen«, unterbricht Löfgren Teos Gedanken.
Löfgren erzählt, er habe Berg gekannt und prophezeit, dieser werde nicht der einzige Arzt bleiben, der in diesem Winter an einer Epidemie stirbt.
»In dieser Hinsicht sind Werkstätten die richtige Lösung. Die Armen müssen an ihre Heimatgegend gebunden werden. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die umherziehenden Bettlerscharen weiter zunehmen.«
»Sie werden zunehmen.«
»Wie kann man ihnen nur begreiflich machen, wie hoffnungslos diese Möglichkeit ist«, lamentiert Löfgren.
»Hoffnungslos schon, aber eine Möglichkeit, wie du selbst sagst.«
»Auf ihren Fersen folgt der Aufruhr. Auch hier ist der Getreidespeicher der Gemeinde schon beraubt worden. Aber am schlimmsten ist der Ausbruch der Typhusepidemie. Die vom Hunger Geschwächten sind zwar anfälliger für die Krankheit, aber auch Gesunde können dahingerafft werden.«
Löfgren berichtet, dass es seit bald zwei Monaten eine Werkstätte im Kirchdorf gibt.
»Gehen dort keine Krankheiten um?«
»Jeder dritte Bewohner ist krank.«
»Was tun sie in den Werkstätten?«
»Handarbeiten.«
»Verkaufen die sich?«
»So gut wie nicht. Und selbst wenn man sie verkaufen würde, gibt es nirgendwo etwas zu essen, dass man mit dem Geld kaufen könnte. Aber man behält die Lage leichter unter Kontrolle, wenn alle an Ort und Stelle bleiben. Stell dir vor, all die Kranken würden kreuz und quer durchs Land ziehen!«
»Stimmt. Ich bitte um Verzeihung, falls ich sarkastisch geklungen haben sollte. Das Schicksal des Jungen hat mich düster gestimmt.«
»Das verstehe ich. Und es ist vollkommen richtig, dass es in dieser Situation nur schlechte Möglichkeiten gibt. Dieses Volk wird einer ernsthaften Prüfung unterzogen«, sagt Löfgren und gießt noch etwas Punsch in Teos Glas.
Am nächsten Tag setzt der Schneefall aus. Juho ist aber noch zu schwach, um die Reise fortsetzen zu können. Stattdessen brechen Teo und Löfgren mit den Skiern zu einem Ausflug auf den nächsten Berg auf.
Vom Gipfel aus betrachtet sieht die im Sonnenlicht badende Winterlandschaft schön aus. Alles Elend, das der Gegend ihren Stempel aufgedrückt hat, ist unter der Schneedecke verschwunden. Teo schaut auf die ausgedehnte hügelige Waldlandschaft unter dem weiten Himmel und fragt sich, wie weit sie sich wohl fortsetzt. Er erhebt sich über den Wald und fliegt über die flachen Berge hinweg, über die zugefrorenen Seen und die Felder, an deren Rändern kleine graue Häuser kauern, die aussehen, als würden sie bereits der kleinste Windhauch unterm Schnee begraben. Er folgt einem Flussbett, überquert eine kleine Stadt, ein Netz, das eine Spinne mit fehlendem Bein geknüpft hat, und in dem sich irgendwann einmal gelb gewordene Fichtennadeln verfangen haben und zu Häusern geworden sind. Dann kommt wieder von Feldern durchsetzter Wald, bis am Horizont das Meer schimmert, unter dessen Eisdecke das Festlandufer eintaucht, und irgendwo dort, auf der Spitze einer Halbinsel, liegt Helsinki. Teo lässt sich bis dicht an die Dächer der steinernen Häuser sinken, und da befreit sich das Meer von seiner Decke, die Eisschollen werden als Segel kleiner Fischerboote gesetzt, und einige von ihnen fallen auseinander, da sie als Möwenschwarm über dem Meer aufsteigen. Er fliegt einen Bogen über Katajanokka und schwebt mitten in einem Möwenschwarm, getragen vom Aufwind, der nahe der Uferlinie über dem Meer weht. Von dort aus sieht er Matsson vor seinem Haus sitzen und die Netze prüfen. Ab und zu klopft er seine Pfeife an einem Stein aus und spricht dabei zu Juho, der neben Matsson sitzt und aufmerksam beobachtet, wie sein Vormund die Netze durchgeht. Matsson sagt etwas, das den Jungen zum Lachen bringt.
Die Bäume in der Ferne sehen so klein aus, und dennoch sind sie genau so groß wie diejenigen, neben denen Teo jetzt steht. Und wenn die Kiefern in diesem großen Ganzen schon so klein sind, wie klein ist er mit seinen Sorgen erst?
Ihn überkommt das Gefühl von Kleinheit, das er immer hat, wenn er bei windigem Wetter auf die See blickt. Und das ist kein schlechtes Gefühl, eher ein befreiendes.
Die Altstadtbucht ist zugefroren. Auf den Feldern von Kumpula wirbelt der Wind Schnee auf, aber in der Nähe der Stadt wirkt das nicht so trostlos wie im dünn besiedelten Binnenland.
Sie passieren eine Schar zerlumpter
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