Das Hungerjahr - Roman
vielleicht wäre es besser gewesen, den Jungen neben seiner Mutter sterben zu lassen anstatt auf einem fremden Schlitten. Dann wären sie ins selbe Massengrab gekommen, dürften zusammen bleiben und keiner von beiden müsste bis in alle Ewigkeit alleine ruhen.
Der Junge lebt jedoch.
Einmal fährt er auf und fragt nach seiner Mutter. Teos Blick liegt auf den vorüber gleitenden Bäumen, auf ihren beschneiten Ästen, auf denen das Licht allmählich ins Bläuliche übergeht. Die Pelzmütze scheuert unangenehm an der Stirn.
»Wie heißt du?«
»Juho.«
»Ich heiße Te. … Onkel Teo. Wo ist dein Vater?«
»Er schläft.«
»Wo schläft dein Vater?«
»Mataleena ist zum Vater in die Scheune gegangen.«
»Und wer ist Mataleena?«
»Meine Schwester.«
»Schläft deine Schwester auch?«
»Ja, sie schläft«, flüstert Juho.
Vater, Mutter und Mataleena gibt es nicht mehr, es gibt nur noch Juho. Juho schaut lange auf den abgetragenen Hut des Fuhrmanns.
»Wo kommst du her? Ich meine, wo wohnt ihr … oder wo habt ihr gewohnt?«, versucht es Teo, begegnet aber lediglich einem Blick des Unverständnisses und begreift, wie aussichtslos es ist, herauszufinden, wo der Junge mit seiner Mutter zum Betteln aufgebrochen ist.
»Geht die Mutter auch in die Scheune?«, fragt Juho.
»Ja, sicher … Aber der Onkel bringt dich jetzt in die Stadt.«
»Zur Kirche?«
»Ja, zu einer richtig großen Kirche.«
»Aber die Mutter kommt nicht mit?«
Im Kirchdorf sucht Teo den örtlichen Arzt auf. Er heißt Löfgren und Teo kennt ihn nicht, aber als er sich erbietet, für das Zimmer zu zahlen, lehnt Löfgren die Entschädigung kategorisch ab und verlangt, dem Kollegen ein Quartier anbieten zu dürfen. Sie könnten so lange bleiben wie nötig, verspricht Löfgren.
»Ein Junge aus der Verwandtschaft. Ich bringe ihn nach Helsinki, seine Eltern sind gestorben«, erklärt Teo.
Doktor Löfgren betrachtet Juhos Lumpen und zwirbelt seinen spitzen Bart.
»Man müsste dir etwas Besseres anziehen«, sagt er. »Wenn du schon mal in die Stadt kommst«, fügt er schmunzelnd hinzu.
Das ist an Juho gerichtet, aber im Gesicht des Jungen regt sich nichts. Er schaut auf die Schuhe des Arztes, als hätten sie etwas Magisches an sich.
In der sauberen Bettwäsche schläft der Junge ein. Teo fragt sich, ob er jemals etwas so Reines gesehen hat. Allerdings hat Juho über die Bettwäsche gar nicht gestaunt, er scheint die Welt so hinzunehmen, wie sie ihm begegnet. Weder Hunger noch Kälte noch das warme Bett und der Teller Suppe haben Veränderungen in seinem ernsten Gesicht bewirkt.
Löfgren reicht Teo ein Glas. Teo steht vom Sessel auf und tritt ans Fenster. Draußen herrscht Schneegestöber. Es kommt Teo unwirklich vor, das Gestöber von drinnen zu sehen, aus der Wärme des Zimmers heraus. Die dünne Scheibe bildet die Membran zwischen zwei Welten, und Teo traut sich nicht einmal, es zu berühren, denn er will den Zauber nicht zerstören und das Draußen nicht in seine eigene Wirklichkeit hereinlassen.
Er denkt an die Frau, die im Schnee liegen blieb. Wie sich der Schnee über sie legte, sie letztlich doch nicht sanft zudeckte, sondern sie verschluckte wie ein tosendes Meer, das den Schiffbrüchigen in die Tiefe zieht. Die Frau war Juhos Mutter, jetzt hat der Junge niemanden mehr. Er ist in Teos Händen, es hängt von Teo ab, welche Zukunft den Jungen erwartet.
Tote hat Teo während dieser Reise mehrere am Straßenrand liegen sehen, aber die Frau war die einzige, die er sterben sah. Es ging schnell, ohne Dramatik. Sie fiel einfach um und stand nicht mehr auf. Als hätte die Erde die Seele verschluckt und nur die leere Hülle zurückgelassen.
Aber ist die Seele denn fähig, diese gefrorene Erde zu durchdringen, fragt sich Teo. Vielleicht verschwand einfach, was in der Frau war. Die Seele erlosch, so würde es ihnen allen ergehen. Bei den einen verbrannte sie im Nu, flammte auf wie ins Feuer geworfenes Papier. Bei den anderen, so wie bei jener Frau, verbrannte sie langsam zu Asche und verwehte mit dem Wind. Wenn von der Frau etwas blieb, dann der Junge. Nur Teo und Juho erinnern sich noch an sie. Und auch wenn Teo von ihr nichts weiß als ihren Tod, wird er sich länger daran erinnern als die Erinnerungsbilder leben werden, die der Junge von seiner Mutter hat. Der Junge ist noch so klein, dass er die Erinnerungen nicht lange mit sich tragen wird. Wenn Juho zum Mann herangewachsen ist, wird er allnächtlich in schweißgetränkten kalten Laken aus
Weitere Kostenlose Bücher