Das Hungerjahr - Roman
Haushaltshilfe ist bei irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung. Als Lars den Jungen bemerkt, beugt er sich vor und schaut ihn verwundert an. Juho erwidert den Blick mit zurückgebogenem Hals.
»Würdet ihr ihn nehmen?«
Lars richtet sich so abrupt auf, dass Teo befürchtet, sein Bruder werde auf den Rücken fallen. Lars macht deutlich, dass er etwas nicht ganz verstanden hat, als hätte Teo etwas sehr Komisches gesagt.
»Würdet ihr den Jungen aufnehmen?«, wiederholt Teo hartnäckig. »Als Pflegekind.«
Er erzählt Lars, wo und wie er den Jungen gefunden hat und alles, was er über ihn erfahren hat. Viel ist es nicht, aber immerhin mehr, als Juho selbst über seinen Lebensweg weiß.
Als Lars endlich die Luft aus der Lunge pustet, klingt das Ausatmen nach einer Ausflucht.
»Man kann nicht einfach so ein Kind annehmen.«
»Man kann es auch nicht einfach sich selbst überlassen.«
Teo bittet Lars, Raakel nach ihrer Meinung zu fragen. Lars findet, die spiele keine Rolle. Er treffe in seiner Familie die Entscheidungen. Jedenfalls solche. Teo trägt seinem Bruder auf, seine Frau in dieser Angelegenheit trotzdem zu fragen.
»Jetzt kommt erst mal ins Haus«, fällt Lars endlich ein.
Sie sitzen im Wohnzimmer, außer Juho, der vor dem großen Hibiskus steht und den Finger in die Blumenerde steckt. Teo erzählt Raakel das, was er gerade Lars erzählt hat. Raakel sieht ihren Mann lange an. Teo nimmt Juho mit in Lars’ Arbeitszimmer. Dort nimmt er Die Geschichten des Fähnrich Ståhl aus dem Regal und zeigt dem Jungen die Bilder in dem Buch. Juho betrachtet sie andächtig und hinterlässt neben jedem Bild einen erdigen Fingerabdruck, der von Seite zu Seite blasser wird.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehren, scheint Lars noch mehr zu zögern. Aber als Raakel sich neben den Jungen kniet, ist die Angelegenheit klar.
Sie streicht Juho über die blonden Haare, und Juho legt nach jeder Berührung den Kopf schief.
»Mamma«, sagt Raakel und deutet auf sich.
Der Junge schaut sie mit seinen kleinen eisgrauen Augen erstaunt an, dann bricht das Eis mit einem Mal. Juho lächelt, und über Raakels Wangen laufen Tränen.
APRIL 1868
I mmer wieder hört man überraschend das Rieseln eines kleinen Baches. Der Schnee schmilzt. Darunter kommen die Grabkreuze im Park der Alten Kirche zum Vorschein, sie spitzen heraus, als wollten sie fragen, ob es schon Zeit wäre, die Menschen im Jahreslauf an ihre Zeitlichkeit zu erinnern.
Lars Renqvist betritt den Park durch das Tor am Bulevardi. Er hat die Hände auf dem Rücken verschränkt und schaut zum wolkenlosen Himmel, dann richtet sich seine Aufmerksamkeit auf einen Spatzenschwarm, und Lars denkt an den Juli des Vorjahrs zurück, an den Spatz, der auf dem Senatsplatz eine Kupfermünze über das Pflaster schubste. Der arme Vogel neigte den Kopf hin und her, versuchte das flache Stück Metall mit dem Schnabel zu packen, und da es nicht gelang, stubste er es wieder an.
»Sisyphos, wo willst du hin?«, hatte der Senator gesagt und die Zehn-Penni-Kupfermünze aufgehoben. Der Vogel war ein Stück weggeflogen und hatte wütend das Gefieder gesträubt.
Gemeinsam hatten sie den Leichtsinn der Menschen missbilligt, die Geld säten wie Gerste, als ginge zwischen den Pflastersteinen die Saat auf. Dann hatte der Senator die Münze in die Höhe gehalten, und sie hatten sie in der Sonne betrachtet, die Schnörkel des kaiserlichen Buchstabens A, und der Senator hatte Lars darauf aufmerksam gemacht, dass die Münze nicht mehr glänzte; sie war durch viele Hände gegangen, was der Ansicht des Senators nach ein Zeichen darstellte: für die ökonomische Tüchtigkeit dieses Volkes, wer hätte das für möglich gehalten. In gewisser Weise war es also ein Samen, der Samen der Nation, der Samen ihres Wohlstandes, hatte der Senator gesagt und Lars kameradschaftlich an die Schulter gestoßen, und da war Lars glücklicher als je zuvor gewesen. Wie Goethe und Eckermann, hatte er gedacht, so würde man sich ihrer erinnern. Und nichts konnte mehr schiefgehen, der Sommer war endlich gekommen, und die Kuppel der Nikolaikirche badete in der Sonne. Noch Anfang Juni hatte es geheißen, im Binnenland sei man mit dem Schlitten über das Eis der Seen gefahren, und es hatte so ausgesehen, als würde der Winter nie aufhören. Ein schlechtes Jahr war auf das andere gefolgt, aber damals im Juni hatte Lars das Gefühl gehabt, als würde sich alles endlich zum Besseren wenden. Auch der Roggen würde noch Zeit zum Reifen
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