Das Hungerjahr - Roman
Gestalten. Einige weichen bis auf die Böschung aus, andere wiederum bleiben mitten auf der Fahrspur und scheinen den Schlitten gar nicht zu bemerken. Als der Fahrer das Pferd auf sie zulenkt, recken sie die Fäuste und schicken Flüche hinterher. Keiner weicht in angemessener Form aus. Vielleicht haben sie auf ihrer Wanderung etwas gelernt: Entweder du stapfst stumpfsinnig in deiner Spur voran und gibst nicht nach, oder du musst weit in den Tiefschnee hinauswaten, um anderen den Weg freizumachen, musst dich von dort aus demütig vor ihnen verneigen und hast dann vielleicht nicht mehr die Kraft, zurückzukehren, und bleibst, wo du bist, erstarrst wie Lots Frau zu einer weißen Säule. Hinter der neuen Eisenbahnlinie, die zum Hafen führt, geht die Landschaft in bewaldete Felsen über. Hier und da sieht man niedrige Holzhäuser. Links liegen zwischen Straße und Meer die Villen. Aus den Fabriken von Hakaniemi steigen dunkle Rauchbahnen wie Bäche zum blauen Himmel auf.
Teo stellt sich vor, wie in zehn Jahren rechts und links der Chaussee Häuser stehen werden. Dann wird Juho an solch einem sonnigen Wintertag aus einem dieser Häuser treten und in eine der kleinen Fabriken gehen. Lars hat beteuert, es werde bald noch mehr davon geben.
Rosig, so rosig, schmunzelt Teo spöttisch über seine Vorstellungen und führt sie in eine kleine, verrauchte und dunkle Fabrikhalle, wo er Juho trifft, der gerade noch ein tüchtiger Jüngling gewesen ist. Jetzt ist er krumm geworden, vorzeitig gealtert, einer unter vielen anderen blassen, vom Kind zum alten Mann gewordenen Gesichtslosen. Und dennoch: In der Fabrik sind diese Elenden weniger dem Wetter und den Launen der Natur ausgesetzt als auf ihren erbärmlichen Ackerparzellen, in der Umklammerung des düsteren Waldes und der Sümpfe, die gleich neben dem Acker beginnen.
Sie kommen am Zollhäuschen vorbei, das wegen des Winters leer steht. Sobald sie die Kleine Brücke erreicht haben, treibt der Fahrer das Pferd zu fürchterlichem Trab an. Teo fragt sich, warum die Leute vom Land das jedes Mal tun müssen. Der Schlitten schwankt, aber Teo hat sich während der Fahrt daran gewöhnt, weshalb ihm nicht schlecht wird. Auch Juho scheint es nicht zu stören, er staunt mit seinen großen, wintergrauen Augen über das vorbeihuschende Brückengeländer und das zugefrorene Meer dahinter. Er redet nicht viel, sieht sich alles aber neugierig an. Das ist gut, denkt Teo, das lenkt die Gedanken von seiner Mutter ab.
Im Stadtteil Siltasaari, der auf einer Insel liegt, muss der Fahrer langsamer machen. Hier gibt es Fabriken und Manufakturen und das entsprechende Leben, das sie mitbringen. Teo schaut wehmütig nach Westen. Irgendwo dort, an der Westspitze der Insel, steht eine Kneipe, in der er vor Jahren als junger Student mit Johan und Matias am Stammtisch saß und sein Geld beim Kegeln ausgab, trinkend und Bellmans Lieder grölend. Jetzt singt Johan Berg nicht mehr, und Teo hat ihm zum Abschied nichts von Bellman gesungen, sondern einige von den trübsinnigen Kirchenliedern, die sie beide so gehasst hatten. In jene Umgebung passten die Lieder allerdings, zu Johans Grab unter dem grauen Himmel, aber man hätte sich auch mit Bellmans Liedern gegen die Mächte des Himmels auflehnen können. Trotzig hätte man unter Beweis stellten können, dass inmitten dieses Elends auch einmal die Freude geblüht hat, und dass diese Freude nicht dem Glauben an Paradiese im Jenseits entsprungen war, sondern all dem Niedrigen und Fleischlichen, für das Teo, wie er glaubt, letztendlich lebt.
Als sie auf die Lange Brücke kommen, bringt der Fahrer das Pferd erneut mit Gebrüll in Trab. Er hält die Besiedlung und alles, was sich außer ihm auf der Straße fortbewegt, für Plagen, die man ihm auferlegt hat und die ihn und das Pferd an der wilden Fahrt hindern. Die übrige Menschheit täte recht, wenn sie sich am Straßenrand versammelte und die geschwinde Fahrt bewunderte. Teo möchte den Mann daran erinnern, worin der Unterschied zwischen einer Pferdedroschke und einem Doktor besteht, aber er weiß, dass die Folge bloß ein verächtlicher Blick wäre, weil der Fahrer ihn für einen Angsthasen hielte. Damit hätte er vielleicht nicht einmal Unrecht, muss Teo sich eingestehen.
Er ist erleichtert, als sie endlich in den Stadtteil Siltavuori kommen, denn kaum haben sie die Innenstadt erreicht, schiebt der Fahrer die Mütze nach hinten und lenkt den Schlitten betont behutsam.
Lars kommt selbst an die Tür. Die
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