Das Hungerjahr - Roman
haben. Dann war aber doch der Herbst gekommen, viel zu früh, und in seinem Gefolge der endlose Winter.
Aber der Frühling, der ist nun trotzdem da.
»Ihr seid wie der Senat. Da zanken sie sich auch ums Korn«, sagt Lars zu den Spatzen.
Er schlägt die Hände zusammen und versucht den Schwarm zu verscheuchen, weil er den Gang seiner Gedanken stört. In ihrem Streit nehmen die Vögel keine Notiz von ihm. Lars fragt sich, wer es sich leisten kann, in solchen Zeiten Lichter in den Park zu bringen, da sich in der Erde kein einziger Strohhalm zu finden scheint, an dem sich das gewöhnliche Volk festhalten könnte. Er denkt an das Pestjahr 1711 und schaut zum anderen Rand des Parks, als sähe er dort einen alten Bekannten. Hier liegen Hunderte Menschen begraben, die damals starben. Missernten und Seuchen sind regelmäßige Gäste bei diesem Volk.
Zwei Jahre nach der Pest zerstörten die Russen die Stadt. Aber die Einwohner kehrten zurück und bauten sie wieder auf. An derselben Stelle. Wir haben die Pest und den Krieg überstanden, also werden wir auch dieses Jahr überstehen, denkt Lars, hört im Kopf aber eine Stimme, die sagt: wir vielleicht, aber viele andere nicht. Es ist Teos Stimme.
»Im Haus der Stände ist es leblos, weil der Senator fort ist«, seufzt Lars einem Spatz zu, der herangehüpft kommt, um unmittelbar neben seinem Schuh nach Spreu zu picken.
Die Empfehlung oder der Befehl von Generalgouverneur Adlerberg an den Senator, drei Monate Freistellung vom Dienst zu beantragen, bedeutet das Ausscheiden aus dem Senat. Damit ist dessen politische Laufbahn beendet, und Lars weiß das. Er wäre noch nicht dazu bereit gewesen. Vielleicht kommt der Frühling dieses Jahr beizeiten, aber das heißt noch nichts. Unter dem Schnee kommt eine trostlose Wahrheit zum Vorschein: Noch bis weit in den Herbst hinein wird das Volk geschröpft werden.
Lars bleibt vor der Alten Kirche stehen. Er neigt etwas den Kopf wie eine Marionette, die von unsichtbaren Fäden geführt wird. Er schaut am First der Kirche vorbei in den blauen Himmel. Von Katajanokka her, von der dortigen Marinekaserne hört man den Kanonenschuss zur Mittagszeit.
Der Kanonenschuss hallt in den Gassen von Katajanokka nach und bahnt sich seinen Weg aus dem Labyrinth hinaus zur Stadtbucht.
Unter Teos Füßen mischt sich der Schnee mit Schlamm, er weicht in die Schatten der Häuser zurück, in den Schutz der unansehnlichen Sockel, als suche der grausame Winter nun Zuflucht in den Hütten, denen er gerade noch von allen Seiten zugesetzt hat. Aber die plumpen Häuser von Katajanokka halten es aus, sie stehen weiterhin schief wie die Zähne ihrer Bewohner.
Die Frühjahrssonne sticht, der Schnee schmilzt zu kleinen rieselnden Bächen auf den Gassen. Drei Kinder stellen in einem größeren Bach ein Rädchen auf.
Wenn die Kräfte der Natur nicht im Stande sind, diese elenden Behausungen ins Meer zu werfen, was wäre dann die Kraft, die sie vernichten könnte?
Matsson sitzt vor der offenen Tür seiner Hütte auf einem Stein und stopft seine Pfeife. Er ist dünner geworden seit dem letzten Mal, stellt Teo fest. Matssons Gesicht hat noch mehr Furchen bekommen. Er gleicht einer hundert Jahre alten Kiefer auf der Spitze einer kleinen Insel, jeder Schlag und jedes Leid drückt ihr einen Stempel auf, lässt sie dadurch aber nur noch stärker aussehen.
Saara kommt aus dem Haus, schüttet den Mistkübel in eine längliche Senke, die als Abwassergraben dient, und geht wieder hinein. Wenn Matsson dünner geworden ist, so ist aus Saaras Wangen das Bisschen verschwunden, das dort vielleicht einmal gewesen ist. Aber die Schwangerschaft, die sieht man deutlicher als zuvor. Der Bauch ist rund, ein Berg, der sich hinter einem See mit klarem Wasser erhebt.
Bei seinem letzten Besuch hatte sich Teo schmunzelnd gefragt, ob er Matsson zum Nachwuchs gratulieren soll. Matsson wiederum hatte ihn angeschaut, als wollte er abschätzen, was er für ein Blatt in der Hand hielt.
»Das Eis geht weg«, hatte Matsson schließlich gesagt und erklärt, er habe vor, zur See zu fahren, sobald die Schiffe wieder verkehrten. Teo wollte wissen, was Matsson mit Saara zu tun gedenke, und genau darüber hatte Matsson mit ihm sprechen wollen. Das Lächeln hatte es schon halb auf Teos Gesicht geschafft, als er dachte, Matsson werde ihm gleich die Stunde der Zeugung seines Kindes anvertrauen. Aber dann fiel ihm ein, dass er selbst mit Saara geschlafen hatte und zählte die Monate.
»Du lebst doch
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