Das Imperium der Woelfe
Ton in der Stimme: »Wir machen eine Tomografie, Fräulein. Eine Totale.« Er ergriff den zerrissenen Ärmel. »Aber erst ein Verband.«
Eine Stunde später stand Anna unter der Galerie am Rand des Krankenhausgartens, der Arzt hatte ihr erlaubt, dort auf ihre Untersuchungsergebnisse zu warten.
Das Wetter war umgeschlagen, Sonnenstrahlen drangen hier und da durch den Regen und verwandelten ihn in einen silbrigen Nebel von unwirklicher Helligkeit. Anna beobachtete aufmerksam, wie der Regen auf die Blätter der Bäume prasselte, beobachtete die Licht reflektierenden Pfützen und Rinnsale, die sich im Kies und zwischen den Wurzeln der Sträucher bildeten. Der Anblick dieses Schauspiels machte es ihr möglich, die Leere in ihrem Kopf zu verdrängen und unterschwellige Ängste zu kontrollieren, die sie noch immer peinigten. Bloß keine Fragen. Noch nicht.
Sandalen raschelten über den Kies, und durch die Pfeiler der Galerie sah sie den Notarzt auf sich zukommen. Er trug die Röntgenbilder in der Hand, sein Lächeln war verschwunden.
»Sie hätten mir von Ihrem Unfall erzählen müssen.«
Anna stand auf: »Von welchem Unfall?«
»Was ist passiert? Ein Autounfall, oder?«
Erschrocken trat sie zurück. Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf: »Ein Wahnsinn, was die plastische Chirurgie heute fertig bringt. Ich wäre nie darauf gekommen, als ich Sie sah... «
Anna riss ihm die Aufnahme aus der Hand.
Auf dem Bild sah man einen Schädel mit lauter Rissen und Nähten, der an zahlreichen Stellen zusammengeklebt war. Schwarze Linien deuteten auf Knochentransplantationen an Stirn und Wangenknochen; Spuren an der Nasenöffnung wiesen auf eine Neubildung der Nase hin; Schrauben an den Ecken der Kiefer und Schläfen fixierten Prothesen.
Anna brach in ein heiseres, von Schluchzern unterbrochenes Lachen aus und rannte durch die Arkaden davon.
Die Röntgenaufnahme in ihrer Hand zitterte in der Luft wie eine blaue Flamme.
vier
Kapitel 23
Seit zwei Tagen durchkämmten sie das türkische Viertel. Paul Nerteaux begriff Schiffers Strategie nicht. Schon Sonntagabend hätten sie bei Marek Cesiuz eindringen müssen, der sich Marius nannte, dem Chef von Iskele, dem wichtigsten Netz für illegale türkische Einwanderer. Sie hätten das Gebäude der Menschenhandelsorganisation durchsuchen und die Papiere der drei Opfer finden müssen.
Stattdessen wollte Chiffre sich erst einmal wieder mit seinem Viertel vertraut machen, Duftmarken hinterlassen, Fährten aufnehmen, wie er sich ausdrückte. Seit zwei Tagen schnüffelte er herum und beobachtete sein früheres Revier, ohne irgendwen zu befragen. Der Dauerregen hatte es ihnen ermöglicht, in ihrem Auto unsichtbar zu bleiben - zu beobachten, ohne gesehen zu werden.
Paul wurde ungeduldig, doch musste er zugeben, dass er in achtundvierzig Stunden mehr über die Kleine Türkei gelernt hatte als in drei Monaten intensiver Nachforschungen.
Jean-Louis Schiffer hatte ihm zunächst die angrenzenden Diasporen gezeigt. Sie waren durch die Passage Brady am Boulevard de Strasbourg gegangen, dem Herz der indischen Gemeinde. Unter einem lang gestreckten Glasdach reihten sich winzige, kunterbunte Läden und eine Reihe schlecht beleuchteter Restaurants aneinander. Kellner sprachen die Passanten an, während die Frauen in Saris ihren Bauchnabel sprechen ließen. Ein starker Gewürzgeruch lag in der Luft, und die heftigen Regengüsse verstärkten die Gerüche zusätzlich, sodass man hätte denken können, man befände sich während des Monsuns in einem Basar in Bombay.
Schiffer hatte ihm gezeigt, in welchen Verkaufsbuden sich Hindis, Bengalis oder Pakistanis trafen. Er hatte ihm die Angehörigen verschiedener Konfessionen gezeigt - Hindus, Muslime, Jains, Sikhs, Buddhisten -, und in manchen Billigläden trafen sie auf eine exotische Vielfalt, die sich seiner Meinung nach bald auseinander dividieren würde.
»In ein paar Jahren werden im 10. Arrondissement die Sikhs den Handel beherrschen«, sagte er grinsend.
Sie hatten sich im Faubourg-Saint-Martin vor allerlei China-Läden postiert, vor Lebensmittelgeschäften, die an finstere Höhlen erinnerten, in denen es nach Knoblauch und Ingwer roch; vor Restaurants mit zugezogenen Vorhängen, die sich öffneten wie Schreine aus Samt, und Feinkostläden mit bunten Salaten und braun gebackenen Krapfen, deren Edelstahlfenster und Chromtresen blitzten. Aus der Ferne hatte Schiffer ihm die wichtigsten Leute der Gemeinde gezeigt,
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